13 Juni 2010

Beutelsäuger: Beutel im Wandel

Beutelsäuger – das sind unscheinbar graue Koalas, mannshohe Kängurus und kleine Ratten. Sie fressen jeweils die Blätter des Eukalyptusbaumes, das dürre Steppengras und umherschwirrende Nachtfalter. Andere wiederum sind hörnchenartig, mit buschigen Schwänzen, hundsgroß und besitzen ein scharfes Gebiss, oder sind kugelartig mit dichtem Fell. Sie ernähren sich dagegen von Termiten, Säugetieren und Wurzeln. Die Auswahl an Beutelsäugern ist groß, die Vielfalt scheinbar grenzenlos. Bei über 320 Arten ist das eigentlich wenig verwunderlich. Da ist es sogar eher verwunderlich, dass wir diese Tiergruppe viel zu oft verallgemeinern und sie meistens sogar nur auf Koala und Känguru reduzieren. Für einen Biologen wäre das der reinste Frevel, denn vergleicht man zwei Beutelsäuger miteinander, dann wäre das so, als vergliche man einen Hamster mit einer Giraffe. Der Grund für dieses eigenartige Gleichnis findet sich in der Systematik nach dem schwedischen Naturforscher Carl von Linné wieder. Hier werden die Säugetiere in drei große Gruppen aufgeteilt: Die Ursäuger, die Höheren Säugetiere und die Beutelsäuger. Ursäuger sind die berühmten eierlegenden Säugetiere, also Schnabeltier und Ameisenigel. Die Höheren Säugetiere sind mit 94 Prozent die am stärksten vertretene Säugetiergruppe. Vom Wolf über die Fledermaus bis hin zum Wal gehören ihnen so gut wie alle Vertreter an.

So gesehen, sollte man auch die Beuteltiere nicht als eine geschlossene Gruppe betrachten, sondern viel eher als eine lose Verwandtschaftsstruktur. Denn letztendlich verbindet sie nur ihr Beutel als kollektives Merkmal und ihre gemeinsame Abstammung.


Die Wiege der Beutler

Wieder biosystematisch gesehen, sind die verschiedenen Arten der Beutelsäuger, je nach Verbreitungsgebiet, in den Ordnungen Australidelphia, oder Ameridelphia untergebracht. Somit decken sie sechs Prozent aller bisher entdeckten Säugetiere ab. Verglichen mit den beiden anderen Säugetiergruppen liegen sie damit im Mittelfeld – keine berauschende Leistung auf den ersten Blick, doch bis es so weit kam, war es ein langer und schwieriger Weg.

Es begann alles mit einem frühen Vertreter der Beutelsäuger, dem die Wissenschaftler den Namen Kokopellia juddi gaben. Er lebte in Nordamerika und musste, den Fossilien zu urteilen, locker in eine Handfläche gepasst haben. Heute lebt in Nordamerika, genau so wie zu jener Zeit, nur noch ein einziger Vertreter der Beutelsäuger: Das Virginia-Opossum. Bis aus dem prähistorischen Kokopellia juddi aber das heutige Virginia-Opossum wurde, verging eine lange Zeit. Wärme- und Kältephasen wechselten einander ab und die Umwelt folgte einem ständigen Wandel. Die Mühle der Evolution mahlte ohne Rücksicht auf Verluste und vor allem: Bis Kokopellia juddi erst zum Virginia-Opossum wurde, folgte eine Vielzahl an Zwischenvertretern. Tausende von Beutelsäugern, die sich immer weiterentwickelten und ausstarben. Hinzu kommt eine Besonderheit der Extraklasse: In Nordamerika, der Wiege der Beutelsäuger, waren diese für eine kurze Zeit sogar ganz verschwunden. Das Virginia-Opossum ist erst über Südamerika (wieder)eingewandert. Tatsächlich ist das kein Einzelschicksal, sondern es zeugt vielmehr von den großen Wanderungen der Beutelsäuger, bis hin zu ihrer heutigen Verbreitung.


Von Siegeszügen und Untergängen

Wir schreiben das Jahr 100 Millionen vor Christus – ein historisch nicht relevantes Datum, denn die Gene der Menschheit und der Primaten stecken noch in einer hörnchenähnlichen Art namens Purgatorius. Umso wichtiger war jenes Datum für die Prähistorik. Es ist die Zeit des großen Wandels, denn vor 50 Millionen Jahren (damaliger Zeit) hatte der südliche Großkontinent Gondwana begonnen, auseinanderzubrechen. Die Landmasse Afrika ist bereits vollkommen von dem Superkontinent abgekapselt und driftet geradewegs auf Europa zu, um dort beim Aufprall die Alpen entstehen zu lassen. Währenddessen verringert sich auch der Abstand zwischen Nord- und Südamerika zunehmend, denn die beiden Landmassen gehörten ursprünglich verschiedenen Superkontinenten an.

Zu jener Zeit in der Epoche der Kreide, entwickelt sich in Nordamerika der Beutelsäuger Kokopellia juddi. Mit jedem Jahrtausend schreitet seine eigene Entwicklung immer weiter voran, während sich seine Artgenossen in anderen Regionen von ihm abspalten und eigene Arten hervorbringen Auch frühe Formen der heutigen Mausopossums und der Beutelratten sind jetzt schon anzutreffen. Hunderte Vertreter kommen hinzu, hunderte von ihnen sterben auch aus. Die Evolution schwingt ihren Pinsel über die Leinwand der Erde. Und dann ist es schließlich so weit: Vor etwa 70 Millionen Jahren treffen die heutigen Kontinente Südamerika und Nordamerika aufeinander.

Eine Landbrücke entsteht. Dutzende Arten der Beutelsäuger wandern Richtung Süden und werden hier heimisch. Die Wanderungen dauern in etwa bis vor 60 Millionen Jahren an, dann driften die Landmassen wieder auseinander und die Brücke ist weg. Was für die Beutler zunächst unerfreulich scheint –hätten doch schließlich noch mehr Arten nach Südamerika kommen können–, entpuppt sich aber als wahrer Glücksfall. Denn nun abgekapselt und in einer neuen geografischen Region, haben sie die Chance, sich weiterzuentwickeln und neue Arten hervorzubringen. Und tatsächlich: Die Beuteltiere in Südamerika gedeihen prächtig und ihre Entwicklung kommt einem Siegeszug gleich. Neben kleineren Arten, wie den Mausopossums, bringt die Tierklasse hier auch Beutelhyänen und den Thylacosmilus hervor, die „beuteltier’sche“ Antwort auf die Säbelzahnkatzen.

Während in Südamerika die Beuteltierfauna floriert, ist die Zeit des großen Wandels in Nordamerika schon längst vorüber. Der Zahn der Evolution nagt beständig an der Gesamtpopulation und hinzu kommt nun auch eine weitere Veränderung: Die Beringstraße zwischen den heutigen USA und dem heutigen Russland schließt sich. Aus Asien und Europa dringen plazentale Säugetiere in das Gebiet der Beutelsäuger ein. Wolf, Katze, Bär und Co. machen den Beutelsäugern das Leben schwer und dezimieren ihren Bestand. Vor 20 Millionen Jahren sterben die Beutelsäuger am nordamerikanischen Kontinent schließlich endgültig aus.

Aber: Der Austausch zwischen Amerika und Asien findet nicht nur einseitig statt. Auch Beutelsäuger nützen die Landbrücke und breiten sich Richtung Westen aus. Obgleich es nur kleine Beutelratten sind, findet diese Tiergruppe ihren Weg bis nach Zentralasien, nach Europa und von hier aus sogar nach Afrika. Die sechs Gattungen, die hier in der Zukunft nachgewiesen werden können, sterben aber gänzlich aus und der „Europafeldzug“ ist nicht von langer Dauer.

Während die übrigen Säugetiere die Beutelträger in Nordamerika gänzlich ausgelöscht haben, treiben sie ihr Unwesen nun auch in Südamerika. Denn die beiden Kontinente finden vor 2 Millionen Jahren wieder zueinander und bilden fortan die Landbrücke, die wir heute als Panama kennen. Wolf und Katze breiten sich zunehmend im Süden aus und vertreiben die Beutelsäuger. Ihr Siegszug ist nun also auch in Südamerika vorbei.

Doch die Natur hat ihr Ende noch nicht vorgesehen und so kommt es, dass die Beutler sozusagen durch die Hintertür Südamerikas flüchten. Denn zu dieser Zeit ist der Kontinent mit der Antarktis verbunden. Noch ist die Wanderung kein Problem, denn es herrscht feucht-heißes Tropenklima in jener Region, die später als das ewige Eis bekannt sein wird. Bisher konnten nur zwei fossile Beuteltiergattungen in der Antarktis nachgewiesen werden, doch ihre weitere Geschichte lässt annehmen, dass noch mehrere Fossilien unter dem ewigen Eis verborgen liegen. Denn durch die Lösung der Antarktis von Südamerika entsteht der antarktische Zirkumpolarstrom und bringt das kalte Klima mit sich. Die Ära der Beutelsäuger ist also auch in der Antarktis wieder vorbei und sie müssen erneut fliehen.

Diesmal nach Australien, das noch über eine Landbrücke mit dem späteren Südpol verbunden ist. Vom weiteren Weg deuten Koala, Känguru und Co.: Sie entwickeln sich weiter und werden, angesichts des immer tropischer werdenden Klimas, zur dominanten Säugetiergruppe. Nachdem die Blüte der Beuteltiere zunächst in Nordamerika, dann in Europa, Asien, Afrika und letztendlich auch in Südamerika und der Antarktis zu Ende gegangen war, sind sie in Australien bis heute die größte Säugetiergruppe geblieben. Ein endgültiges Ergebnis?


Der Mensch und die Beutler

Oder anders formuliert: Werden Beutelsäuger nun in Australien endgültig die dominante Säugetiergruppe bleiben, oder genauso wie auf den anderen Kontinenten aussterben? In Nord- und Südamerika waren es höhere Säugetiere, wie Bären oder Katzen, welche die Beutelsäuger verdrängten. Heute wird es in Australien die Krone der Schöpfung selbst sein: Die Menschheit. Der einzige Unterschied zu den früheren Aussterbewellen wird nur der sein, dass sie sich langsam vollzogen haben. Beim übereifrigen Handeln der Menschen bleibt aber nicht viel Zeit, um größere Veränderungen in der Population geschehen zu lassen, geschweige denn darauf zu warten, bis Australien wieder eine Landbrücke zu einem anderen Kontinent bildet.

Aber wer könnte einem solch plüschigen Tier, wie einem Koala, oder einem Känguru, etwas antun? Wer würde nicht schwach, wenn einem ein kleines pelziges Tier aus seinen großen Knopfaugen ansieht? Doch tatsächlich gehören diese Gedanken einzig dem westlich geprägten Bürger der Neuzeit. Naturvölker haben nicht nur eine viel intensivere Beziehung zur Natur, sondern diese befindet sich auch auf einer vollkommen anderen Ebene. Egal in welchem Verbreitungsgebiet, werden Beutelsäuger seit jeher von der indigenen Bevölkerung wegen ihres Fleisches und des Felles bejagt. Aber auch im Pleistozän, vor rund 50.000 Jahren, fand eine große Aussterbewelle statt, die laut einigen Wissenschaftlern auf die Besiedlung Australiens durch die Aborigines zurückzuführen ist. Diese Theorie ist bis heute nicht fest untermauert. Einige der Forscher wollen aber in der schrumpfenden Körpergröße der Tiere ein eindeutiges Indiz dafür sehen. Ob tatsächlich der Mensch daran Schuld trägt, wird die Forschung in den nächsten Jahren zeigen.

Um sich von dem forschungstechnisch dünnen Eis wegzubewegen, kann man auch einen Blick in die jüngere Geschichte des Kontinents werfen. Denn auch bei seiner zweiten Besiedlung, diesmal durch europäische Einwanderer, finden sich einige Fehltritte, die hätten vermieden werden können. So brachten die neuen Bewohner neben Hund und Katze noch eine Vielzahl weiterer Tiere mit nach Australien, die hier verwilderten und als Neozoen, also ortsfremde Tiere, ihr Unwesen trieben. Daneben veränderten die Siedler die Natur nachhaltig auch durch die Urbanisierung und durch die Rodung der Wälder für die Landwirtschaft. Die Beutelsäuger und andere Tiere wurden systematisch ihres Lebensraumes beraubt.

Auf diese Art starben allein in Australien in den letzten 150 Jahren 10 Arten der Beutelsäuger aus. Weitere 50 Arten sind bedroht, oder gelten gar als Todeskandidat. In Südamerika sind es 20 Arten, um die man aktuell bangt.

Als Mahnmal der besonderen Art dient der Beutelwolf. Bei der Ankunft der Siedler lebte er einzig nur noch auf der Insel Tasmanien. Mit der zunehmenden Viehwirtschaft, drangen die fleischfressenden Tiere zunehmend in die menschlichen Siedlungen ein. Eine Konfliktsituation entstand, deren einzige Lösung die Neo-Australier in der Tötung der Beutelwölfe sahen. Um 1850 setzte sogar die tasmanische Regierung eine Abschussprämie von 25 Cent auf das Raubtier an. Spätestens jetzt war sein Schicksal besiegelt. Und als die Leute ihren Fehler schließlich doch einsahen, war es bereits zu spät: Der letzte Beutelwolf, um den alle Zuchtversuche vergeblich waren, starb 1936 in einem Zoo.

Aber so weit muss es gar nicht mehr kommen. Und Australien könnte, nach aktuellem Stand, tatsächlich das endgültige Reiseziel der Beutelsäuger werden, denn seit einigen Jahren schon, findet ein gravierendes Umdenken statt. Mittlerweile bekennen sich die Australier zu ihren „Mitbewohnern“ und erkennen, was sie ihnen zu verdanken haben. Für ihren Schutz werden eigens Schutzgebiete eingerichtet und damals eingeschleppte Konkurrenten, wie der Rotfuchs, werden aktiv bekämpft.


Große Brüder und Urzeitliche Schwestern

„Koalas sind süß.“, „Kängurus sind lieb.“, „Wombats? – Putzig!“ – so die landläufigen Meinungen. Und mit „süß“, „lieb“ und „putzig“ lässt sich nicht nur Geld verdienen, sondern auch ein Image ganz gut beeinflussen. Was –vielleicht darüber hinaus– auch immer die Gründe dafür sein mögen, setzt Australien de facto Vieles daran, seine beuteltragenden Lieblinge zu erhalten. Ob das die Regierung wohl auch für die großen Brüder und Schwestern der heutigen Beutelsäuger getan hätte?

Es ist erdgeschichtlich noch gar nicht so lange her, als es vor etwa 40.000 bis 50.000 Jahren in Australien zu einem Massenaussterben von Großsäugern kam. Die mögliche Overkill-Hypothese, wonach dieses Aussterben durch den Menschen verursacht wurde, findet sich weiter oben.

Ein davon betroffener Beutelsäuger war das Diprotodon. Zwei Meter hoch, drei Meter lang und knapp drei Tonnen schwer, war es der größte Vertreter dieser Gruppe, der jemals gelebt hat. Äußerlich ähnelte Diprotodon dem heute lebenden Wombat, gemischt mit einem Nashorn. Trotz seiner gewaltigen Maße, dürfte der Koloss ein recht friedfertiges Tier gewesen sein, das in Gruppen lebte und sich von Pflanzen ernährte.

Ein wenig rauer ging es da schon bei den Beutellöwen zu, die ebenfalls bei dieser Welle der Ausrottung ums Leben kamen. Eine Verwandtschaft zwischen ihnen und den heute lebenden Großkatzen bestand nicht, dennoch sahen sie einander nicht ganz unähnlich aus. Wie ihre nächsten Verwandten, Wombat und Koala, bewohnten Beutellöwen die Bäume dichter Wälder. Hier gab es nicht nur genügend Beutetiere, sondern auch genügend Verstecke. Ähnlich furchterregend dürfte auch der Beuteltier-Vertreter Thylacosmilus gewesen sein, der den bekannten Säbelzahnkatzen ähnelte. Er lebte zirka 2 Millionen Jahre vor dem großen Aussterben in Südamerika und machte –schwerfällig, wie er war– hauptsächlich Jagd auf langsame Säugetiere.

Man könnte ebenfalls zweifeln, ob sich Australien so sehr um Procoptodon bemüht hätte, oder ob wir es so putzig fänden, wenn es sich vor uns aufbäumt. Denn dabei handelt es sich um ein gut drei Meter hohes Riesenkänguru. Zum Vergleich: Heute lebende Känguru-Arten besitzen auch schon eine respektable Größe von 1,8 Metern.

Ein Siegeszug folgte dem anderen – genauso wie ein Untergang dem nächsten. Zuerst stand Nordamerika ganz groß im Trend, dann schließlich Südamerika. Und in beiden Fällen waren es die Höheren Säugetiere, welche die Beutler vertrieben. Mit Europa, Asien und Afrika war es letztendlich auch nichts. Die einzige Lösung war die Flucht nach Australien und wahrscheinlich wird auch das nicht die Endstation der Beutelsäuger sein.

Die Beutelsäuger eine rastlose Tiergruppe? Keineswegs, denn tatsächlich hat so gut wie jede Tiergruppe solch einen mehr oder weniger rasanten Wandel durchlebt, ehe sie ihre heutige Verbreitung erreicht hat. Und auch diese wird nicht die endgültige sein. Die Natur ist keine Momentaufnahme – auch wenn wir sie meist so behandeln. Der Wandel der Beuteltiere ist keine Geschichte von Flucht und Vertreibung, er ist nur einer der vielen Indikatoren für den ständigen Wandel, den unsere Umwelt tagtäglich durchlebt.


Foto 1: Gelbfuß-Felskänguru, (C) User Peripitus Wikipedia unter der GNU-Lizenz

Foto 2: Nacktnasenwombat, (C) Julian Berry unter der Creative Commons Lizenz

Foto 3: Nordopossum, kein (C)

Foto 4: Lebendkonstruktion von Diprotodon optatum, (C) Dimitry Bogdanov unter der GNU-Lizenz

Foto 5: Beutelwälfe im Zoo, kein (C)