06 August 2010

Bartgeiers Knochenschmiede

Eisenoxid, der Bart und sichtbare Erregung

Der Bartgeier ist ein Vogel der Extreme. Ganz gleich, ob man auf seine Statur oder seine Fortpflanzung achtet, sein Verhalten, oder seine Verbreitung. Er ist einer der größten Vögel weltweit und gleichzeitig einer der seltensten. Allein seine Flügelspannweite beträgt 2,9 Meter und ist damit eineinhalb Mal so groß wie ein ausgewachsener Mensch; sein Gewicht - das 318fache eines Rotkehlchens und seine Körperlänge weit über einen Meter.

Andere Körpermerkmale lassen sich nicht mit Zahlen belegen, der Extreme und dem Außergewöhnlichen jagen sie dennoch hinterher.

Der namensgebende Bart ist einzigartig unter Vögeln. Eigentlich aus dutzenden borstenartigen Federn, entspringt er der Region unterhalb der Augen und zieht sich weit über den Schnabel fort. Aber nicht nur der Bart ist außergewöhnlich, beim Bartgeier hat so gut wie jedes Körpermerkmal seine eigene Geschichte oder seinen Hintergrund - so auch die rostrote Farbe an Hals, Brust und Bauch des Geiers. Sie kommt von einem Bad in eisenoxidhaltiger Erde. Der wahre Grund dafür ist bis heute ungeklärt, Theorien gibt es viele. Eine davon sagt dem Wälzen im Rost denselben Zweck nach, weshalb sich Elefanten und Schweine im Schlamm suhlen: Sie sollen sich so vor lästigen Parasiten schützen. Das Eisenoxid sei bloß aus dem Grund gewählt, da schwere Schlammklumpen im Vogelgefieder denkbar ungünstig wären. Andere Theorien besagen, dass die Vögel auf diese Weise ihre Körpertemperatur regulieren, oder alte Federn abstoßen. Die gängigste Theorie ist laut Wissenschaftlern aber die, dass die rote Färbung eine Statusanzeige ist - eine Art sexuell-machtanzeigendes Stimmungsbarometer. Biologen konnten beobachten, dass das Rot der grundlegend dominanteren Weibchen intensiver war, als das ihrer männlichen Artgenossen. In der Paarungszeit hatte der Rotstich beider Geschlechter zugenommen.

Um darüber Gewissheit zu erlangen, werden einige weitere Jahre der Forschung vergehen. Sollte sich die Stimmungs-Theorie aber bewahrheiten, dann wäre das bereits der zweite Indikator für die Launen des Bartgeiers. Um die Augen besitzt der Vogel nämlich einen sogenannten Skleralring, der sich bei Aufregung (und je nach deren Intensität) von Rötlich, über Kirschrot bis hin zu Purpur verfärbt. Somit hätte der Bartgeier als erstes Tier den perfekten Mechanismus, seinen Status zu offenbaren, ohne Missverständnisse aufkommen zu lassen: Die Färbung für die aktuelle Lebenslage und Persönlichkeit (single, dominanter Charakter, paarungsbereit) und den Skleralring für die Stimmung (aggressiv, angriffsbereit, friedlich)

Bartgeiers Knochenschmiede

Einzigartig macht den Bartgeier neben seinem Körper auch seine Nahrung, oder allein schon die Technik, wie er an diese herankommt. Die meisten anderen Greifvögel haben ein breites Nahrungsspektrum, um ihre Chancen auf eine schnelle Mahlzeit zu vergrößern. Die einzige Nahrung, die der Bartgeier zu sich nimmt, ist im Gegensatz dazu, genauso einfallslos, wie nährstoffarm: Er frisst ausschließlich Knochen. Ein leichtes Unterfangen, sollte man glauben, denn es gilt: Wo (Wirbel)Tiere, da auch Knochen. In der Realität ist die Jäger-Beute-Beziehung aber um Einiges komplizierter. Denn der Bartgeier ernährt sich fast ausschließlich von dem Knochengerüst, nicht aber von dem Tier, dem es Gestalt verleiht. Ein erwachsener Vogel lebt zu achtzig Prozent und mehr von Knochen. Er ist daher auf das Zusammenleben mit Bär, Wolf und anderen Wildtieren angewiesen, die für ihn die Gebeine freilegen.

Die meiste Zeit des Tages kreisen Bartgeier in ihrem Revier und halten Ausschau nach einem frischen, vielleicht sogar noch warmen, Kadaver. Sobald sie sich überzeugt haben, dass sie allein mit dem toten Tier sind und die Knochen bereits offen liegen, setzen sie zum Landeanflug an. Ganz dem Prinzip eines Aasfressers, stürzen sie dabei nicht direkt auf ihre Beute zu, sondern legen die letzten Meter zu Fuß zurück.

Hat ein Bartgeier erst einmal einen Knochen aus dem Kadaver herausgerissen, wiegt er ab, ob er ihn im Ganzen hinunterschlingt, oder ihn zuvor zertrümmert. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass der Vogel mühelos Knochen von der Größe des menschlichen Schlüsselbeins schlucken kann. Sobald die Kalziumpakete aber größer sind, kommt die Knochenschmiede des Bartgeiers zum Einsatz. Dabei handelt es sich um nahezu waagrechte Felsplatten von etwa dreißig Quadratmetern Fläche. Der Vogel schnappt sich den Knochen, fliegt in einer Spirale bis zu achtzig Meter hoch und lässt ihn von dort aus auf seine Schmiede hinabfallen. Den Knochen zerspringen zu lassen, gelingt selten schon beim ersten Mal. In Feldstudien zählten Biologen die Versuche mit und staunten selbst: Der beobachtete Bartgeier hatte es zwar erst beim vierzigsten Anlauf geschafft, doch gleichzeitig auch bewiesen, wie viel Geduld er dabei aufbrachte.

Entführte Kinder und eine Schildkröte

Dieses Verhalten brachten dem Bartgeier neben dem Spanischen Namen Quebrantahuesos (Der die Knochen bricht) auch im Deutschen die Beinamen Knochenbrecher und Beinbrecher ein. Und führte zeitgleich zu einem Konflikt mit dem Menschen, was teils begründet ist, größtenteils aber dem Mitwirken von Aberglauben und Mythos bedurfte.

Im Mittelmeerraum, der seit Jahrhunderten ein Rückzugsgebiet für die Vögel darstellt, wird das Beutespektrum der Bartgeier durch Landschildkröten erweitert. Die Geier lassen sie dort, ähnlich ihren Knochen, auf einen Felsen hinabfallen, um sie zu knacken. Eine Legende besagt, dass ein Bartgeier einst über der italienischen Stadt Gela eine Schildkröte herabfielen ließ. Unglücklicherweise traf sie dabei den Kopf von niemand geringeren als dem griechischen Dichter Aischylos, der daraufhin zu Tode kam.

Im Alpenland nannte man den Bartgeier häufig Lämmergeier, da man beobachten haben wollte, wie der Raubvogel Lämmern und anderen Huftieren nachstellt. Sogar kleine Kinder soll der Geier entführt haben, wie der schweizer Schriftsteller Friedrich von Tschudi 1890 niederschrieb: „In Hundwyl trug ein solch verwegener Räuber ein Kind vor den Augen seiner Eltern und Nachbarn weg.“ Außerdem lebe seinen Schriften zufolge immer noch eine Frau im Urnerlande, die in ihrer Kindheit von einem Lämmergeier entführt worden sei und auf der Silberalp hätte er einen Hirten zerfleischt, „und stieß ihn, ehe die herbeieilenden Sennen ihn vertreiben konnten, in den Abgrund.“

Es dauerte nicht lange, da geschah mit dem Bartgeier, was allen Tieren einst widerfuhr, denen man unglaubliche Fähigkeiten zuschrieb, es aber so gut wie nie zu sehen bekam: Er wurde mystifiziert, die biologische Spezies bald schon zu einer sagenumwobenen, mystischen Gestalt. Doch anders als beispielsweise dem Jaguarkrieger oder dem Quetzalcoatl im Amazonasgebiet, war der Ruf des mystischen Lämmergeiers negativ behaftet. Er spielte in puncto Volksglaube bald schon in derselben Liga wie der Werwolf und man begann, ihn zu verfolgen.

Er muss weg

Der Hass der Menschen auf eine Bestie, die drohte, ihre Kinder zu entführen, war denkbar groß. Vor allem in den abgelegenen Gebieten des Alpenlandes war der Volksglaube in den vergangenen drei Jahrhunderten eine zweite Religion. Der Bartgeier kam darin einem Dämon gleich. Er wurde rücksichtslos bejagt. Jene Menschen, die nicht an den kinderraubenden Bartgeier glaubten, brachte der Glaube an etwas anderes dazu, den Raubvögeln nachzustellen: Das schnelle Geld. Denn im 19. Jahrhundert setzten Guteigentümer und Landesherren eine Prämie auf jeden erlegten Bartgeier aus.

Hinzu kam, dass zu der Zeit die Nutzbarmachung der Gebirgsregionen so schnell voranschritt, wie nie zuvor. Aus hohen Wiesen wurden Weiden, Wälder wurden zu brachen Flächen. Man entzog Rehen, Wildschweinen und Gämsen systematisch ihren Lebensraum und den Bartgeiern somit die Lebensgrundlage. Flächendeckend ist der Bartgeier heute aus der Alpenregion verschwunden. Die letzten Tiere wurden 1886 in der Schweiz, 1906 in Österreich und sieben Jahre später schließlich auch in Italien erlegt. Das heutige Vorkommen des Bartgeiers gleicht einem Fleckenteppich auf der Landkarte. Zu seinen letzten Rückzugesgebieten gehören Teile des Atlasgebirges, der Pyrenäen und des Kaukasus-Gebirges. In Afrika kommt der Bartgeier fleckenartig nur noch im äußersten Westen und im Streifen von Kenia bis nach Südafrika vor.

Schutzprojekt

Mehr als hundert Jahre nach dem Aussterben der Bartgeier in der Schweiz, hat ein Umdenken stattgefunden. Schon in den 1970er Jahren wurden neue Gesetze erlassen, welche die Wiederansiedlung des Bartgeiers unterstützen sollte. Im Innsbrucker Alpenzoo gelang ein langersehnter Zuchterfolg und es bildeten sich die ersten Gruppen, die sich dem Schutz des Bartgeiers verschrieben.
Heute, vierzig Jahre danach, ist ein Wiederansiedlungsprojekt im Gang, dessen erste Ergebnisse sich sehen lassen können. Rund hundert Bartgeier leben bereits wieder frei in den Alpen, allein die Hälfte davon in der Schweiz.

Möglich machte dies erst das Engagement von Regionalgruppen, die unter Landwirten und Jägern Aufklärungsarbeit leisteten. Zu der österreichischen Auswilderungsstation im Krumtal kamen bald schon eine in der Schweiz, zwei in Italien und drei in Frankreich hinzu. Der Schutz des Bartgeiers wurde auch im Standradprogramm zahlreicher Naturschutzorganisationen verankert und die Gesetze wurden ein weiteres Mal gestrafft, um den bestmöglichen Schutz zu gewährleisten.

Ein besonderes Beispiel für den regionalen Schutz bietet die griechische Insel Kreta. Hier wurde neben einem Erlebnispfad auch eine Beobachtungsstation errichtet, mit der eine optimale Aufklärung gesichert ist. Geschützt sind die Geier hier gleich durch zwei Faktoren: Einerseits durch das LIFE-Projekt der Europäischen Union und andererseits auch im Samaria-Nationalpark. Zusammen konnten die beiden Institutionen das Überleben von acht Brutpaaren sichern, was in unter Berücksichtigung der Fläche Kretas ein voller Erfolg ist.

Doch noch immer versuchen manche Menschen die Wiederansiedlung der Bartgeier zu verhindern und dabei scheinen ihnen alle Mittel recht zu sein. Häufig werden die Greifvögel Opfer eines Jägers, aber viel öfters noch verenden sie an den ausgelegten Giftködern. Die Gründe dafür heißen Unwissenheit und Ignoranz, das Motiv Eigen- oder Eigentumsschutz. Doch sind all das tatsächlich nur Begleiterscheinungen auf dem Weg zur Wiederansiedlung der Bartgeier oder ein Gegenstrom? Biologen, Umweltschützer und all jene Menschen, die sich in einem der vielen Projekte engagiert haben, hoffen auf den Fall einer Begleiterscheinung. Denn während sich Gegenströme meist weiterentwickeln, sind Begleiterscheinungen vergänglich.

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Foto 1: © Richard Bartz unter der Creative Commons-Lizenz

Foto 2: © J.M. Garg unter der GNU-Lizenz

Foto 3: © Richard Bartz unter der Creative Commons-Lizenz



18 Juli 2010

Geboren für die Dose? Das Aussterben der Thunfische

Es erinnert schon ein wenig an Roland Emmerichs Katastrophenfilm „2012“. Darin wird die Idee aufgegriffen, dass laut Maya-Kalender in diesem Jahr die Welt untergehe. Der Menschheit stehe ihr jähes Ende bevor. Schwachsinn, sagen die einen; bedenklich, meinen die anderen.
Welche
Untergänge das Jahr 2012 tatsächlich mit sich bringt, bleibt abzuwarten. Prognosen können aber jetzt schon gestellt werden und so wie es aussieht, bleiben dem Menschen wohl noch ein paar Jahre - trotz Ölkatastrophe und Terrorismus. Für einen seiner beliebtesten Speisefische schaut die Sache allerdings ganz anders aus. Der Blauflossen-Thunfisch sieht 2012 weniger optimistisch entgegen. Laut einer Studie des WWF scheint sein Schicksal mit diesem Jahr endgültig besiegelt: Sie sagt seine Ausrottung voraus.

Ein Mini auf der Schnellstraße
Thunfisch ist nicht gleich Thunfisch - auch wenn man ihn einzig unter diesem Namen in Speisekarten oder auf Konservendosen findet. In der Biosystematik bilden die Thunfische eine eigene Gattung. Acht verschiedene Arten kommen darin direkt vor, andere, wie der Bonito, werden oft dazugezählt, obwohl sie mit den Thunfischen nur weiter verwandt sind. Trotz der Vielfalt, werden wir meist nur mit einer Thunfischart abgefertigt, wenn wir eine Konserve öffnen oder eine Pizza Tonno bestellen: Der Blauflossen-Thunfisch ist der unumstrittene Klassiker. Andere Quellen bezeichnen ihn als Rother Thun, Großer Thun - oder als Nordatlantischer Thun. Dieser Name spielt auf seine Verbreitung an. Die Grenzen seines Vorkommens sind klar definiert: Von Amerika bis nach Europa, vom Äquator bis zur Arktis. Zu den Gebieten, die der Blauflossen-Thun zusätzlich erobern konnte, zählen die Karibik, das Mittelmeer, der Golf von Mexiko und die Südspitze Afrikas.
Das Geheimnis seines Erfolgs: Anpassungsfähigkeit. Fische sind kaltblütige Tiere, ihre Körpertemperatur passt sich der Umgebung an. Damit der Blauflossen-Thun seinen hohen Stoffwechsel aber auch im Eismeer aufrecht erhalten kann, hat ihm Mutter Natur einen Trick mit auf seinen Weg gegeben. Als eine der wenigen Fischarten, schaffen es Thunfische, ihre Körpertemperatur über der Außentemperatur zu halten. Das Prinzip ist einfach, der Mechanismus raffiniert: Thunfische produzieren ihre eigene Wärme, in dem sie schnell schwimmen. Die Energie, die dabei entsteht, wird anschließend als Wärme an das Blut abgegeben.
Überhaupt sind Thunfische recht flinke Gesellen - davon zeugt schon ihr Name. „Tuna“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet so viel wie „rasen“ oder „eilen“. Und diesen Namen tragen die Fische zu Recht, denn sie erreichen Geschwindigkeiten von bis zu 80 km/h. Das ermöglicht ihnen erst ihre sichelförmige Flosse, die unter Volllast 30 mal pro Sekunde schlägt. Für das menschliche Auge ist diese Frequenz gar nicht mehr wahrnehmbar.
Bei einem Gewicht von 700 Kilo und 80 Stundenkilometer entspricht der schwimmende Thunfisch einem Auto (der Marke Mini) auf der Schnellstraße. Absoluter Rekord. Normalerweise geht die Natur hier nach dem Prinzip entweder-oder vor: Entweder ein Schwergewicht, oder ein Raser. Doch der Nordatlantische Thunfisch vereint diese beiden Eigenschaften in sich.

Die alten Zeiten
Der Blauflossen-Thun zählt seit eh und je zu den beliebtesten Speisefischen der Menschheit. Das schnelle Schwimmen durchblutet seinen Körper. Es verleiht dem Fleisch eine tiefrote Farbe und lässt es auch noch nach der Zubereitung rot und saftig wirken.
Ernest Hemingway sah seinen ersten Thunfisch einst in der spanischen Hafenstadt Vigo - und hatte sich augenblicklich in seiner Anmut verloren. Er schrieb: Jeder, dem es gelänge, einen dieser gewaltigen Fische an Land zu bringen, kann unerschrocken in den Kreis der altehrwürdigen Götter eintreten.
Und damit hatte er nicht ganz Unrecht. Zumindest nach damaligen Verhältnissen, denn im Jahr 1921 war die Fischerei noch nicht so ausgereift, wie heute. Moderne Fangtechniken steckten, wenn überhaupt, noch in ihren Kinderschuhen: Muskelkraft war gefragt. Es war die Zeit, in der der Thunfisch-Fang noch ein fairer Kampf zwischen Mensch und Tier war.
Die Fischerei war ein Kraftakt. Zugegeben: Die Methoden waren vielleicht genauso grausam wie heute; Gaffhaken, Schlagstöcke und Messer kamen zum Einsatz. Dafür hielt sich die Bejagung aber auch in Grenzen. Fischer und Fisch waren weniger distanziert und die Beziehung wurde bestimmt von Respekt. Respekt vor den Männern, die allen Wettern trotzten, und Respekt vor den gewaltigen Kräften, die sich hinter dem Fisch verbargen.
Heute sieht die Sache anders aus. Würde Hemingway heute diese Zeilen niederschreiben, käme das einem Kniefall vor einer millionenschweren Lobby gleich. Er würde sich Greenpeace, WWF und sämtliche anderen Naturschutzorganisationen auf den Hals hetzen. Und das knapp 90 Jahre später - eine vergleichsweise kurze Zeit, bedenkt man, wie lange die Evolution für ihr Werk gebraucht hat. Was war geschehen?

Sechs Häppchen Sushi und ein Untergang
Die kurze Antwort: In diesen 90 Jahren wurde der ehrbare Fischer zum habgierigen Geschäftsmann, sein Beruf bürokratisiert. Die einst lokale Fischerei entwickelte sich zu einer Millionen-Lobby. Die Fangmethoden wurden immer spezialisierter, Fischer und Fisch immer mehr distanziert.
Heute steht die Blauflossen-Thunfisch-Population vor dem Kollaps. Laut Umweltschutzorganisation WWF soll der Koloss schon in eineinhalb Jahren seinen letzten Flossenschlag tun.
Aber wie kam es soweit? Während der Untergang anderer bedrohter Tierarten durch Wilderei und Schwarzhandel bestimmt wird, braucht es beim Thunfisch gar keine illegalen Methoden. Auch wenn die illegale Fischerei ihren Teil zur Bedrohung beiträgt, so liegen die wahren Gründe woanders: Die Fangtechnik hat sich in den vergangenen 50 Jahren laufend verbessert. Eine Methode überholte die nächste, eine war effizienter, als die andere. Die Zeiten sind längst vorbei, in denen die Fischer auf die offene See hinaus fahren und auf gut Glück ihre Netze auswerfen.
Die altbewährte Methode bestand darin, den Blauflossen-Thunfisch bei seiner Wanderung einfach abzufangen. Sachbuchautor Taras Grescoe beschreibt diese Szene sehr anschaulich in seinem Buch Der letzte Fisch im Netz. Thunfische würden „in immer kleiner werdende Netze getrieben, bis sie schließlich die „Todeskammer“ erreichen, wo sie mit drei Meter langen Gaffhaken getötet werden.“ Im traditionellen Sizilien nennt man dieses blutige Schauspiel mattanza.
Diese Methode wurde bald schon von radikaleren Techniken eingeholt. Unter Strom stehende Harpunen machten viel schnelleren Prozess mit den Tieren. Der Fang war weniger zeitaufwendig und die gewonnene Zeit konnte in mehr Ertrag umgesetzt werden.
Aber auch diese Methode wurde abgelöst. Die moderne Thunfischjagd wird am Meer und in der Luft ausgetragen. So absurd es klingen mag, die Sizilianer machten aus ihrer mattanza die Fliegende mattanza. Dabei kommt neben einem Schiff auch ein Kleinflugzeug zum Einsatz, meist eine Cessna. Sobald das Schiff Fanggründe erreicht hat, startet das Flugzeug seine Beobachtermission. Hat der Pilot eine Thunfisch-Gruppe gefunden, die es mengenmäßig wert ist, befischt zu werden, dirigiert er den Kapitän über Funk direkt zu ihr.
Grescoe hierzu: „Technische und wirtschaftliche Veränderungen haben den Thunfischfang vom vormals fairen Kampf zwischen Mensch und Tier zur Massenernte gemacht.“ Weiter schreibt er, ein Ringwadenkutter (Ringwade = ringförmiges Netz) müsse im günstigsten Fall nur einmal sein Netz auswerfen, um 300 Fische zu fangen. Für dieselbe Menge hätte ein Harpunenfischer früher zehn Jahre gebraucht!
Und das forderte seinen Tribut: Heute schwimmen im Atlantik nur noch sechs Prozent der ursprünglichen Thunfisch-Population. Laut WWF hat der Bestand seit den 1970ern um 40 Prozent abgenommen. Das sind zehn Prozent in einer Dekade und ein Prozent im Jahr von Blauflossen-Thuns, die aussterben. Noch! Denn die Fangmethoden werden stetig verbessert und noch dazu steigt der Druck auf die Unternehmen. Es ist ein Teufelskreis: Die Fischereien schöpfen mit ihren Netzen die Meere leer. Sie müssen ihre Fangmethoden also weiter entwickeln, um noch mehr Fisch zu fangen und den Standard zu erhalten. Das Meer wird weiter ausgeschöpft und die Unternehmen müssen noch mehr Fisch fangen, um ihre Arbeiter zu bezahlen.
Das Verschwinden der Fische und der Fischfang schaukeln sich gegenseitig auf: Aus dem Verschwinden entsteht die Notwendigkeit, mehr Fische zu fangen. Aus dieser Notwendigkeit entsteht wiederum das Verschwinden der Fische.
Zu diesem Wechselspiel kommt noch dazu ein enormer Druck auf die Unternehmen zu. Nicht nur, dass sie sich zunehmend für ihr Handeln verantworten müssen, der Druck steigt ebenso von der Seite des Marktes.
Der weltweit größte Exporteur von Blauflossen-Thunfisch ist Spanien, der größte Importeur Japan. Der Inselstaat ist der Abnehmer von stolzen 78 Prozent des weltweit gefangenen Thunfischs. Das spiegelt sich auch in der Ernährung der Bevölkerung wider: Ein Durchschnittsjapaner verzehrt pro Jahr 61 Kilo Fisch - vier mal so viel wie der Weltdurchschnitt. Umgerechnet ergibt das laut Taras Grescoe sechs Häppchen Sushi pro Japaner und Tag.
In Japan leben aktuell über 127 Millionen Menschen - 127 Millionen Fischliebhaber, 127 Millionen potentielle Kunden. Welches Unternehmen würde schon auf einen solch großen Markt verzichten, wegen ein paar Fischen?
Und selbst wenn Thunfischfang-Gegner den Versuch starten, ihren Liebling zu schützen, dann weiß das letztendlich immer noch einer zu verhindern: Japans Regierung selbst. Sie wehrt sich vehement gegen Gesetze, die den Thunfisch-Strom nach Japan abreißen lassen könnten. Aus ihrer Sicht durchwegs verständlich, weil Sushi aus dem Blauflossen-Thunfisch ein uraltes Gericht darstellt, das in der japanischen Kultur fest verankert ist. Einerseits hat die Regierung Traditionen zu wahren, andererseits auch die Natur. Es wäre zu einfach, sie als „gut“ oder „böse“ abzustempeln, sie befindet sich in einem Zwiespalt. Ein Zwiespalt zwischen Tradition und Veränderung, zwischen fest Verankertem und neu Auftretendem.
Wie sehr sich Japans Regierung gegen Schutzgesetze wehrt, wurde erst vor wenigen Monaten bei der Artenschutzkonferenz in Doha ersichtlich.

Das Warten auf den Umschwung
Das Problem des Thunfisch-Aussterbens ist lange bekannt. Der Ruf nach Schutzgesetzen gleicht einem alten Volkslied, denn er ist genauso alt, wie das Problem selbst.
Allerdings führt kein Weg um das Gesetz herum, es ist die einzige Möglichkeit, den Restbestand zu erhalten. Unternehmen würden den Selbstzerstörungsmodus aktivieren, sobald sie auf Nachhaltigkeit setzen, und ein Boykott wäre kaum wirksam genug.
Der erste Schritt wurde im Juni 2007 getroffen, als die EU die Verordnung 41/2007 erließ. Mit ihr wurden Schonzeiten für den Blauflossen-Thun verhängt - laut Naturschutzorganisationen eine Aktion, die kaum Wirkung gezeigt hat.
Über ein Jahr später erließ der EU-Fischereiminister Joseph Borg erneut ein Gesetz. Schiffe mit Ringwadennetzen sollten fortan für den Thunfischfang gesperrt sein. Auf dem Papier sollte der Plan aufgehen, tatsächlich wurden Ringwadenfischer beobachtet, schon wenige Tage, nachdem das Gesetz in Kraft getreten war.
Der erste tatsächliche Erfolg gelang keiner Behörde, sondern den Hauptverantwortlichen selbst. Im Oktober 2008 trafen Japan und Spanien beim Weltnaturschutzkongress in Barcelona aufeinander und beschlossen ein Gesetz zum Schutz des Blauflossen-Thunfischs. In der kommenden Laichsaison sollte der Fang ganz eingestellt, den Rest des Jahres eingeschränkt werden.
Der erste Schritt schien getan, Japan hatte zum ersten Mal nachgegeben. Ab jetzt sollte es nur noch bergauf gehen. Tatsächlich dauerte es aber keine zwei Jahre, da kam der nächste Rückschlag. Der WWF Deutschland sollte ihn später noch als den „Kniefall von Doha“ bezeichnen.
Im März 2010 stimmten die Staaten bei der CITES-Konferenz (CITES = Washingtoner Artenschutzübereinkommen) in Doha über einen grenzüberschreitenden Handelsstopp für Thunfisch ab. Nur 20 Staaten unterstützten den Antrag, 68 stimmten dagegen - und 30 Ländern schien der Blauflossen-Thun nicht einmal ihre Stimme wert.
Den Antrag gestellt hatte Monaco. Die Mehrheit der Staaten hatte sich an diesem Tag zwar gegen seinen Vorschlag entschieden, doch das Fürstentum hat in diesem Zuge gleich den Anstoß für ein neues Schutzmodell geliefert. Wenn es schon keine internationale Einigung gibt, sollte dann nicht jeder Staat zu seiner eigenen Verantwortung stehen? Könnte der Thunfisch, wenn nicht global, dann zumindest regional geschützt werden - in Form von Einfuhrstopps und Handelsverboten? Monaco sagte Ja. Der Zwergstaat verbannte alle Thunfischgerichte von seiner Speisekarte und aus sämtlichen Supermarktregalen. Eine Aktion mit Modellcharakter und vielleicht ziehen ja schon bald andere Staaten mit.
Wünschenswert wäre es jedenfalls. Wenn nach dem Dodo auf Mauritius und dem Beutelwolf in Australien jetzt auch der Blauflossen-Thun aussterben würde, wäre das nicht nur ein tragischer Verlust für die Natur. Es würde der Menschheit auch ein weiteres Armutszeugnis ausstellen, den Beweis ihrer Unfähigkeit, zu Handeln.

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Foto 1: Thunfischschwarm, kein ©
Foto 2: Ringwadennetz, © User Reinhard Wikipedia unter der GNU-Lizenz
Foto 3: Thunfischmarkt in Tokio, © User Chris73 Wikipedia unter der GNU-Lizenz
Foto 4: Blauflossen-Thun, © User Opencage Wikipedia unter der GNU-Lizenz

13 Juni 2010

Beutelsäuger: Beutel im Wandel

Beutelsäuger – das sind unscheinbar graue Koalas, mannshohe Kängurus und kleine Ratten. Sie fressen jeweils die Blätter des Eukalyptusbaumes, das dürre Steppengras und umherschwirrende Nachtfalter. Andere wiederum sind hörnchenartig, mit buschigen Schwänzen, hundsgroß und besitzen ein scharfes Gebiss, oder sind kugelartig mit dichtem Fell. Sie ernähren sich dagegen von Termiten, Säugetieren und Wurzeln. Die Auswahl an Beutelsäugern ist groß, die Vielfalt scheinbar grenzenlos. Bei über 320 Arten ist das eigentlich wenig verwunderlich. Da ist es sogar eher verwunderlich, dass wir diese Tiergruppe viel zu oft verallgemeinern und sie meistens sogar nur auf Koala und Känguru reduzieren. Für einen Biologen wäre das der reinste Frevel, denn vergleicht man zwei Beutelsäuger miteinander, dann wäre das so, als vergliche man einen Hamster mit einer Giraffe. Der Grund für dieses eigenartige Gleichnis findet sich in der Systematik nach dem schwedischen Naturforscher Carl von Linné wieder. Hier werden die Säugetiere in drei große Gruppen aufgeteilt: Die Ursäuger, die Höheren Säugetiere und die Beutelsäuger. Ursäuger sind die berühmten eierlegenden Säugetiere, also Schnabeltier und Ameisenigel. Die Höheren Säugetiere sind mit 94 Prozent die am stärksten vertretene Säugetiergruppe. Vom Wolf über die Fledermaus bis hin zum Wal gehören ihnen so gut wie alle Vertreter an.

So gesehen, sollte man auch die Beuteltiere nicht als eine geschlossene Gruppe betrachten, sondern viel eher als eine lose Verwandtschaftsstruktur. Denn letztendlich verbindet sie nur ihr Beutel als kollektives Merkmal und ihre gemeinsame Abstammung.


Die Wiege der Beutler

Wieder biosystematisch gesehen, sind die verschiedenen Arten der Beutelsäuger, je nach Verbreitungsgebiet, in den Ordnungen Australidelphia, oder Ameridelphia untergebracht. Somit decken sie sechs Prozent aller bisher entdeckten Säugetiere ab. Verglichen mit den beiden anderen Säugetiergruppen liegen sie damit im Mittelfeld – keine berauschende Leistung auf den ersten Blick, doch bis es so weit kam, war es ein langer und schwieriger Weg.

Es begann alles mit einem frühen Vertreter der Beutelsäuger, dem die Wissenschaftler den Namen Kokopellia juddi gaben. Er lebte in Nordamerika und musste, den Fossilien zu urteilen, locker in eine Handfläche gepasst haben. Heute lebt in Nordamerika, genau so wie zu jener Zeit, nur noch ein einziger Vertreter der Beutelsäuger: Das Virginia-Opossum. Bis aus dem prähistorischen Kokopellia juddi aber das heutige Virginia-Opossum wurde, verging eine lange Zeit. Wärme- und Kältephasen wechselten einander ab und die Umwelt folgte einem ständigen Wandel. Die Mühle der Evolution mahlte ohne Rücksicht auf Verluste und vor allem: Bis Kokopellia juddi erst zum Virginia-Opossum wurde, folgte eine Vielzahl an Zwischenvertretern. Tausende von Beutelsäugern, die sich immer weiterentwickelten und ausstarben. Hinzu kommt eine Besonderheit der Extraklasse: In Nordamerika, der Wiege der Beutelsäuger, waren diese für eine kurze Zeit sogar ganz verschwunden. Das Virginia-Opossum ist erst über Südamerika (wieder)eingewandert. Tatsächlich ist das kein Einzelschicksal, sondern es zeugt vielmehr von den großen Wanderungen der Beutelsäuger, bis hin zu ihrer heutigen Verbreitung.


Von Siegeszügen und Untergängen

Wir schreiben das Jahr 100 Millionen vor Christus – ein historisch nicht relevantes Datum, denn die Gene der Menschheit und der Primaten stecken noch in einer hörnchenähnlichen Art namens Purgatorius. Umso wichtiger war jenes Datum für die Prähistorik. Es ist die Zeit des großen Wandels, denn vor 50 Millionen Jahren (damaliger Zeit) hatte der südliche Großkontinent Gondwana begonnen, auseinanderzubrechen. Die Landmasse Afrika ist bereits vollkommen von dem Superkontinent abgekapselt und driftet geradewegs auf Europa zu, um dort beim Aufprall die Alpen entstehen zu lassen. Währenddessen verringert sich auch der Abstand zwischen Nord- und Südamerika zunehmend, denn die beiden Landmassen gehörten ursprünglich verschiedenen Superkontinenten an.

Zu jener Zeit in der Epoche der Kreide, entwickelt sich in Nordamerika der Beutelsäuger Kokopellia juddi. Mit jedem Jahrtausend schreitet seine eigene Entwicklung immer weiter voran, während sich seine Artgenossen in anderen Regionen von ihm abspalten und eigene Arten hervorbringen Auch frühe Formen der heutigen Mausopossums und der Beutelratten sind jetzt schon anzutreffen. Hunderte Vertreter kommen hinzu, hunderte von ihnen sterben auch aus. Die Evolution schwingt ihren Pinsel über die Leinwand der Erde. Und dann ist es schließlich so weit: Vor etwa 70 Millionen Jahren treffen die heutigen Kontinente Südamerika und Nordamerika aufeinander.

Eine Landbrücke entsteht. Dutzende Arten der Beutelsäuger wandern Richtung Süden und werden hier heimisch. Die Wanderungen dauern in etwa bis vor 60 Millionen Jahren an, dann driften die Landmassen wieder auseinander und die Brücke ist weg. Was für die Beutler zunächst unerfreulich scheint –hätten doch schließlich noch mehr Arten nach Südamerika kommen können–, entpuppt sich aber als wahrer Glücksfall. Denn nun abgekapselt und in einer neuen geografischen Region, haben sie die Chance, sich weiterzuentwickeln und neue Arten hervorzubringen. Und tatsächlich: Die Beuteltiere in Südamerika gedeihen prächtig und ihre Entwicklung kommt einem Siegeszug gleich. Neben kleineren Arten, wie den Mausopossums, bringt die Tierklasse hier auch Beutelhyänen und den Thylacosmilus hervor, die „beuteltier’sche“ Antwort auf die Säbelzahnkatzen.

Während in Südamerika die Beuteltierfauna floriert, ist die Zeit des großen Wandels in Nordamerika schon längst vorüber. Der Zahn der Evolution nagt beständig an der Gesamtpopulation und hinzu kommt nun auch eine weitere Veränderung: Die Beringstraße zwischen den heutigen USA und dem heutigen Russland schließt sich. Aus Asien und Europa dringen plazentale Säugetiere in das Gebiet der Beutelsäuger ein. Wolf, Katze, Bär und Co. machen den Beutelsäugern das Leben schwer und dezimieren ihren Bestand. Vor 20 Millionen Jahren sterben die Beutelsäuger am nordamerikanischen Kontinent schließlich endgültig aus.

Aber: Der Austausch zwischen Amerika und Asien findet nicht nur einseitig statt. Auch Beutelsäuger nützen die Landbrücke und breiten sich Richtung Westen aus. Obgleich es nur kleine Beutelratten sind, findet diese Tiergruppe ihren Weg bis nach Zentralasien, nach Europa und von hier aus sogar nach Afrika. Die sechs Gattungen, die hier in der Zukunft nachgewiesen werden können, sterben aber gänzlich aus und der „Europafeldzug“ ist nicht von langer Dauer.

Während die übrigen Säugetiere die Beutelträger in Nordamerika gänzlich ausgelöscht haben, treiben sie ihr Unwesen nun auch in Südamerika. Denn die beiden Kontinente finden vor 2 Millionen Jahren wieder zueinander und bilden fortan die Landbrücke, die wir heute als Panama kennen. Wolf und Katze breiten sich zunehmend im Süden aus und vertreiben die Beutelsäuger. Ihr Siegszug ist nun also auch in Südamerika vorbei.

Doch die Natur hat ihr Ende noch nicht vorgesehen und so kommt es, dass die Beutler sozusagen durch die Hintertür Südamerikas flüchten. Denn zu dieser Zeit ist der Kontinent mit der Antarktis verbunden. Noch ist die Wanderung kein Problem, denn es herrscht feucht-heißes Tropenklima in jener Region, die später als das ewige Eis bekannt sein wird. Bisher konnten nur zwei fossile Beuteltiergattungen in der Antarktis nachgewiesen werden, doch ihre weitere Geschichte lässt annehmen, dass noch mehrere Fossilien unter dem ewigen Eis verborgen liegen. Denn durch die Lösung der Antarktis von Südamerika entsteht der antarktische Zirkumpolarstrom und bringt das kalte Klima mit sich. Die Ära der Beutelsäuger ist also auch in der Antarktis wieder vorbei und sie müssen erneut fliehen.

Diesmal nach Australien, das noch über eine Landbrücke mit dem späteren Südpol verbunden ist. Vom weiteren Weg deuten Koala, Känguru und Co.: Sie entwickeln sich weiter und werden, angesichts des immer tropischer werdenden Klimas, zur dominanten Säugetiergruppe. Nachdem die Blüte der Beuteltiere zunächst in Nordamerika, dann in Europa, Asien, Afrika und letztendlich auch in Südamerika und der Antarktis zu Ende gegangen war, sind sie in Australien bis heute die größte Säugetiergruppe geblieben. Ein endgültiges Ergebnis?


Der Mensch und die Beutler

Oder anders formuliert: Werden Beutelsäuger nun in Australien endgültig die dominante Säugetiergruppe bleiben, oder genauso wie auf den anderen Kontinenten aussterben? In Nord- und Südamerika waren es höhere Säugetiere, wie Bären oder Katzen, welche die Beutelsäuger verdrängten. Heute wird es in Australien die Krone der Schöpfung selbst sein: Die Menschheit. Der einzige Unterschied zu den früheren Aussterbewellen wird nur der sein, dass sie sich langsam vollzogen haben. Beim übereifrigen Handeln der Menschen bleibt aber nicht viel Zeit, um größere Veränderungen in der Population geschehen zu lassen, geschweige denn darauf zu warten, bis Australien wieder eine Landbrücke zu einem anderen Kontinent bildet.

Aber wer könnte einem solch plüschigen Tier, wie einem Koala, oder einem Känguru, etwas antun? Wer würde nicht schwach, wenn einem ein kleines pelziges Tier aus seinen großen Knopfaugen ansieht? Doch tatsächlich gehören diese Gedanken einzig dem westlich geprägten Bürger der Neuzeit. Naturvölker haben nicht nur eine viel intensivere Beziehung zur Natur, sondern diese befindet sich auch auf einer vollkommen anderen Ebene. Egal in welchem Verbreitungsgebiet, werden Beutelsäuger seit jeher von der indigenen Bevölkerung wegen ihres Fleisches und des Felles bejagt. Aber auch im Pleistozän, vor rund 50.000 Jahren, fand eine große Aussterbewelle statt, die laut einigen Wissenschaftlern auf die Besiedlung Australiens durch die Aborigines zurückzuführen ist. Diese Theorie ist bis heute nicht fest untermauert. Einige der Forscher wollen aber in der schrumpfenden Körpergröße der Tiere ein eindeutiges Indiz dafür sehen. Ob tatsächlich der Mensch daran Schuld trägt, wird die Forschung in den nächsten Jahren zeigen.

Um sich von dem forschungstechnisch dünnen Eis wegzubewegen, kann man auch einen Blick in die jüngere Geschichte des Kontinents werfen. Denn auch bei seiner zweiten Besiedlung, diesmal durch europäische Einwanderer, finden sich einige Fehltritte, die hätten vermieden werden können. So brachten die neuen Bewohner neben Hund und Katze noch eine Vielzahl weiterer Tiere mit nach Australien, die hier verwilderten und als Neozoen, also ortsfremde Tiere, ihr Unwesen trieben. Daneben veränderten die Siedler die Natur nachhaltig auch durch die Urbanisierung und durch die Rodung der Wälder für die Landwirtschaft. Die Beutelsäuger und andere Tiere wurden systematisch ihres Lebensraumes beraubt.

Auf diese Art starben allein in Australien in den letzten 150 Jahren 10 Arten der Beutelsäuger aus. Weitere 50 Arten sind bedroht, oder gelten gar als Todeskandidat. In Südamerika sind es 20 Arten, um die man aktuell bangt.

Als Mahnmal der besonderen Art dient der Beutelwolf. Bei der Ankunft der Siedler lebte er einzig nur noch auf der Insel Tasmanien. Mit der zunehmenden Viehwirtschaft, drangen die fleischfressenden Tiere zunehmend in die menschlichen Siedlungen ein. Eine Konfliktsituation entstand, deren einzige Lösung die Neo-Australier in der Tötung der Beutelwölfe sahen. Um 1850 setzte sogar die tasmanische Regierung eine Abschussprämie von 25 Cent auf das Raubtier an. Spätestens jetzt war sein Schicksal besiegelt. Und als die Leute ihren Fehler schließlich doch einsahen, war es bereits zu spät: Der letzte Beutelwolf, um den alle Zuchtversuche vergeblich waren, starb 1936 in einem Zoo.

Aber so weit muss es gar nicht mehr kommen. Und Australien könnte, nach aktuellem Stand, tatsächlich das endgültige Reiseziel der Beutelsäuger werden, denn seit einigen Jahren schon, findet ein gravierendes Umdenken statt. Mittlerweile bekennen sich die Australier zu ihren „Mitbewohnern“ und erkennen, was sie ihnen zu verdanken haben. Für ihren Schutz werden eigens Schutzgebiete eingerichtet und damals eingeschleppte Konkurrenten, wie der Rotfuchs, werden aktiv bekämpft.


Große Brüder und Urzeitliche Schwestern

„Koalas sind süß.“, „Kängurus sind lieb.“, „Wombats? – Putzig!“ – so die landläufigen Meinungen. Und mit „süß“, „lieb“ und „putzig“ lässt sich nicht nur Geld verdienen, sondern auch ein Image ganz gut beeinflussen. Was –vielleicht darüber hinaus– auch immer die Gründe dafür sein mögen, setzt Australien de facto Vieles daran, seine beuteltragenden Lieblinge zu erhalten. Ob das die Regierung wohl auch für die großen Brüder und Schwestern der heutigen Beutelsäuger getan hätte?

Es ist erdgeschichtlich noch gar nicht so lange her, als es vor etwa 40.000 bis 50.000 Jahren in Australien zu einem Massenaussterben von Großsäugern kam. Die mögliche Overkill-Hypothese, wonach dieses Aussterben durch den Menschen verursacht wurde, findet sich weiter oben.

Ein davon betroffener Beutelsäuger war das Diprotodon. Zwei Meter hoch, drei Meter lang und knapp drei Tonnen schwer, war es der größte Vertreter dieser Gruppe, der jemals gelebt hat. Äußerlich ähnelte Diprotodon dem heute lebenden Wombat, gemischt mit einem Nashorn. Trotz seiner gewaltigen Maße, dürfte der Koloss ein recht friedfertiges Tier gewesen sein, das in Gruppen lebte und sich von Pflanzen ernährte.

Ein wenig rauer ging es da schon bei den Beutellöwen zu, die ebenfalls bei dieser Welle der Ausrottung ums Leben kamen. Eine Verwandtschaft zwischen ihnen und den heute lebenden Großkatzen bestand nicht, dennoch sahen sie einander nicht ganz unähnlich aus. Wie ihre nächsten Verwandten, Wombat und Koala, bewohnten Beutellöwen die Bäume dichter Wälder. Hier gab es nicht nur genügend Beutetiere, sondern auch genügend Verstecke. Ähnlich furchterregend dürfte auch der Beuteltier-Vertreter Thylacosmilus gewesen sein, der den bekannten Säbelzahnkatzen ähnelte. Er lebte zirka 2 Millionen Jahre vor dem großen Aussterben in Südamerika und machte –schwerfällig, wie er war– hauptsächlich Jagd auf langsame Säugetiere.

Man könnte ebenfalls zweifeln, ob sich Australien so sehr um Procoptodon bemüht hätte, oder ob wir es so putzig fänden, wenn es sich vor uns aufbäumt. Denn dabei handelt es sich um ein gut drei Meter hohes Riesenkänguru. Zum Vergleich: Heute lebende Känguru-Arten besitzen auch schon eine respektable Größe von 1,8 Metern.

Ein Siegeszug folgte dem anderen – genauso wie ein Untergang dem nächsten. Zuerst stand Nordamerika ganz groß im Trend, dann schließlich Südamerika. Und in beiden Fällen waren es die Höheren Säugetiere, welche die Beutler vertrieben. Mit Europa, Asien und Afrika war es letztendlich auch nichts. Die einzige Lösung war die Flucht nach Australien und wahrscheinlich wird auch das nicht die Endstation der Beutelsäuger sein.

Die Beutelsäuger eine rastlose Tiergruppe? Keineswegs, denn tatsächlich hat so gut wie jede Tiergruppe solch einen mehr oder weniger rasanten Wandel durchlebt, ehe sie ihre heutige Verbreitung erreicht hat. Und auch diese wird nicht die endgültige sein. Die Natur ist keine Momentaufnahme – auch wenn wir sie meist so behandeln. Der Wandel der Beuteltiere ist keine Geschichte von Flucht und Vertreibung, er ist nur einer der vielen Indikatoren für den ständigen Wandel, den unsere Umwelt tagtäglich durchlebt.


Foto 1: Gelbfuß-Felskänguru, (C) User Peripitus Wikipedia unter der GNU-Lizenz

Foto 2: Nacktnasenwombat, (C) Julian Berry unter der Creative Commons Lizenz

Foto 3: Nordopossum, kein (C)

Foto 4: Lebendkonstruktion von Diprotodon optatum, (C) Dimitry Bogdanov unter der GNU-Lizenz

Foto 5: Beutelwälfe im Zoo, kein (C)


24 Mai 2010

Schöne Seltenheit: Jaguar

Geschichtsträchtig, allerseits respektieret und von hoheitlicher Anmut. Der Jaguar ist der unumstrittene König des Dschungels, sein Reich umfasst weite Teile Südamerikas. Doch über sein tropisches Königreich zieht ein dunkler Schatten herein, ein Schatten der Zerstörung und der Vernichtung. Allein in den letzten Jahrzehnten schrumpfte sein Herrschaftsgebiet um die Hälfte und der Jaguar selbst muss sich auch immer häufiger böswilligen Verfolgern gegenübersehen. Er mag zwar der König des Dschungels sein, doch diese Ehre trägt auch einen hohen Preis mit sich, denn der Jaguar erlebt es hautnah mit, was es heißt, ein Monarch im 21. Jahrhundert zu sein.

Der Jaguar ist der König des Dschungels. Von Mexiko im Norden bis hin nach Argentinien im Süden erstreckt sich sein Reich. In diesem Gebiet ist er der uneingeschränkte Herrscher, Herr der Nahrungskette und Richter über Leben und Tod. Die restliche Tierwelt verneigt sich vor seinem Antlitz. Hoheitlich trägt er sein schwarz getupftes Herrscherkleid und zweifelt jemand an seiner Stellung, zögert er nicht, seine fingerlangen Eckzähne als Machtbeweis zu zeigen. Und auch die Verwandtschaft mit Löwe, Tiger und Co. –ihrerseits selbst Könige ihres Lebensraumes– beweist: der Jaguar stammt aus wahrlich königlichem Haus.

Und dennoch hat er bei genauerem Hinsehen etwas ganz und gar Unkönigliches an sich; eine Eigenschaft, die jeder König aus seinem Repertoire streichen sollte. Denn der König des Dschungels hat Lampenfieber vor großen Auftritten. Mit seinen sporadischen Kurzauftritten hat er gar etwas von einem Waldgeist an sich. Kaum hat man ihn gesehen, ist er auch schon wieder verschwunden. Tatsächlich ist der Jaguar eine der scheusten Großkatzen. Es scheuen nicht nur andere Tiere seinen Kontakt, auch er geht anderen Tieren und Menschen lieber aus dem Weg. Die meiste Zeit des Tages (laut Untersuchungen 40 bis 50 Prozent) verbringt er sogar schlafend im Unterholz. Während man früher aus genau diesem Grund annahm, der Jaguar sei ausschließlich nachtaktiv, weiß man es heute besser. Während er die Haupttageszeit in einem versteckten Winkel vor sich hin döst, wird er bereits in den Nachmittagsstunden aktiv. Zu dieser Tageszeit demonstriert er dann wieder, dass er sich seine hohe Stellung redlich verdient hat. Denn einem König angemessen, geht er nun auf die Jagd. So gesehen, hat er allerdings auch etwas von einem Guerilla-Krieger, der sich den ganzen Tag versteckt, plötzlich zuschlägt und so schnell er da war, auch schon wieder verschwunden ist.

Das Beutespektrum des Jaguars ist äußerst breit, was er in erster Linie seinen beiden Jagdmethoden verdankt. Während die meisten Räuber bloß auf eine Art an ihre Beute herankommen, ist der König des Dschungels sowohl als Anpirschjäger im Unterholz, aber auch als Ansitzjäger auf den dicken Ästen von Bäumen aktiv. In beiden Fällen tötet er seine Beute –von Gürteltieren über Hirsche bis hin zu Affen– mit einem gekonnten Biss in den Schädel – eine Einzigartigkeit, wie sie unter Katzen eigentlich nur beim Jaguar vorkommt. Aber auch sonst zeigt sich schnell, sobald es ums Jagen geht, dass der Jaguar eine untypische Katze ist. Während sich andere Vertreter seiner Familie eher an ein untergehendes Schiff krallen würden, bevor sie zwei Schritte im Wasser auf das rettende Land machen, ist der Jaguar dem Wasser in keinster Weise abgeneigt. Bietet sich die Gelegenheit, geht er sogar in diesem Element auf die Jagd, um einen Fisch, hin und wieder gar einen Kaiman, oder auch eine Schildkröte zu erbeuten. Das Knacken ihres Panzers ist für ihn die leichteste Übung, nicht nur wegen seiner spitzen Zähne, sondern auch dank seines enormen Schädels, mit dem er einen ebenso enormen Druck aufbauen kann. Bleibt von der kostbaren Mahlzeit nach dem Fressen noch etwas übrig, vergräbt der Jaguar die Reste für knappere Zeiten unter der Erde.

Dieses Fressverhalten des Jaguars, wie es auf diese Weise in allen Lexika und Tierenzyklopädien zu lesen ist, beschreibt allerdings leider nur die halbe Wahrheit. Denn das Beutespektrum des felltragenden Königs reicht darüber hinaus und beinhaltet so gut wie alles, was viel Fleisch verspricht und erlegt werden kann – Eine Eigenschaft, die ihn nur allzu oft in ein schlechtes Licht rücken lässt und ihn immer wieder zum Verhängnis wird.

Denn ein Wildtier, das an einer bereits vorbereiteten Mahlzeit vorüberkommt, wird diese wohl kaum verschmähen und auf eine Gelegenheit warten, die seinen Jagdinstinkt mehr fordert. Doch nicht selten besitzt eine solche vorbereitete Mahlzeit die Form eines festgebundenen Schweins, oder die eines Gatters voller Rinder. Das rasante Bevölkerungswachstum Südamerikas und die damit verbundene Ausweitung der Landwirtschaft und die Zunahme der Viehzuchtbetriebe tragen auch nicht gerade dazu bei, die Versuchung zu schmälern.

Sobald ein Jaguar bis zu einer Farm vordringt und Vieh reißt, entsteht unweigerlich eine Konfliktsituation; ein Kampf zwischen Mensch und Tier. Und tatsächlich haben beide Gegner gute Argumente, warum sie diesen Kampf austragen. Der Mensch hat das Vieh domestiziert, kümmert sich darum und bewirtschaftet es ähnlich einem Acker. Da ist es doch sein gutes Recht, es auch gegen Angreifer zu verteidigen. Der Jaguar könnte hingegen den Standpunkt vertreten, dass er sich nur nimmt, was ihm zusteht. Denn schließlich ist es sein Gebiet, er ist der König. Und tatsächlich ist es nicht er, der auf die Farmen der Menschen vordringt, sondern die Menschen, die zunehmend in sein Königreich vordringen. Möglicherweise ist dieser Konflikt aber auch nichts anderes, als die Evolution in einer ihrer vielen Gestalten.

Was ist Evolution? Grob gesagt, das Überleben des Stärkeren, nachdem der Kampf um Nahrung und allem voran um Lebensraum ausgetragen wurde. Und genau diese Beschreibung trifft auf den Konflikt zwischen Mensch und Jaguar zu, bloß, dass der Kampf zu dieser Stunde am Laufen ist. Der Ausgang ist ungewiss, doch wenn Mensch und Tier im 21. Jahrhundert miteinander kämpfen, ist er zumindest absehbar.

Es mag unnatürlich klingen, aber dennoch ist fraglich, ob die Evolution, ein Prozess, der so alt ist, wie das Leben selbst, in der Form, wie sie hier stattfindet, in Zeiten wie diesen ethisch noch überhaupt vertretbar ist.

Vielleicht sollte man sich das Problem dabei einfach mal näher ansehen. Der Jaguar ist, wie oben beschrieben, ein Viehräuber. Der Kampf um die Nahrung ist also de facto gegeben. Die zweite Komponente der Evolution, der Kampf um Lebensraum, ist ebenso existent. Denn obwohl der Jaguar der unumstrittene König des Dschungels ist, steht eins ganz gewiss fest: Sein Königreich schwindet.

Das heutige Verbreitungsgebiet des Jaguars reicht vom westlichen Mexiko über ganz Zentralamerika und Amazonien, bis hin nach Argentinien. Noch bis vor fünfzig Jahren erstreckte sich dieses Gebiet sogar noch bis in den Südwesten der USA. Erst im Jahr 1963 wurde der offiziell letzte Jaguar auf US-amerikanischen Boden erschossen. Scheinbar aber konnten sich ein paar einzelne der Tiere im Hinterland halten, sodass die Sichtungen von Jaguaren noch in etwa auf die Jahrtausendwende zurückgehen. Möglicherweise waren diese wenigen Einzelgänger aber auch aus Mexiko die Landkarte hinaufgezogen. Sicher ist allerdings, dass sie keinen Einfluss mehr auf die Gesamtpopulation des Jaguars haben und mit dem Abschuss im Jahr 1963 ein historischer Meilenstein in der Ausrottung des Jaguars gelegt wurde.

Allein in den letzten Jahrzehnten schrumpfte das Verbreitungsgebiet –die USA bereits außer Acht gelassen– um rund die Hälfte. Die Ursache ist, wenn man so will, eine alte Bekannte: Die Regenwaldzerstörung. Abholzung, Nutzbarmachung für die Landwirtschaft und galoppierende Urbanisierung im Namen des Fortschritts – aber auf Kosten eines einzigartigen Ökosystems und dessen Bewohner.

Wirft sich wieder einmal die Frage auf, ob der Fortschritt des Menschen zugunsten der Tiere aufgehalten werden darf, denn im Gunde holt Südamerika doch jetzt nach, was Europa oder die USA bereits in den letzen hundert Jahren vollbracht haben. Fakt ist, man kann den Fortschritt nicht aufhalten, Fakt ist aber auch, dass der Lebensraum, in dem wir leben dabei nicht zu kurz kommen darf. Ein Kompromiss muss gefunden werden.

Ein erster Versuch, den Jaguar vor der hungrigen Mühle des Fortschrittes zu schützen, ist seine Aufnahme in das Washingtoner Artenschutzabkommen im Jahr 1973. Darin wird festgehalten, dass der Handel mit Fellen und Körperteilen von Jaguaren verboten ist und denjenigen, der sich über dieses Verbot hinwegsetzt, hohe Strafen erwarten. Das war insofern wichtig, als in den 1960er Jahren laut Schätzungen jährlich 15.000 Jaguare erlegt und –zu jener Zeit legal– auf den Markt gebracht wurden – Und diese Zahl stammt allein aus dem brasilianischen Gebiet Amazoniens. So gesehen war das Washingtoner Artenschutzabkommen vor rund vierzig Jahren ein voller Erfolg.

Doch nach heutigen Maßstäben betrachtet, handelt es sich bestenfalls um einen Teilerfolg, einen kleinen Schritt auf dem langen Weg zum Schutz des Jaguars. Denn auch wenn der Weg zum Schutz des Jaguars mit den Schuhen des Gesetzes begangen werden muss, schlägt er dennoch eine andere Richtung ein. Denn die einzige Möglichkeit, einen nachhaltigen Schutz für diese Tierart zu gewährleisten, ist, ihren gesamten Lebensraum zu schützen – und das im Einklang mit dem Fortschritt.

Und hat man diesen Weg erst als den wahren anerkannt, werden einem erst die tausende von Problemstellungen bewusst. Aber: Es werden einem auch die Augen für die ersten Erfolge geöffnet. Im Jahr 2008 beispielsweise wies die Regierung Brasiliens Schutzgebiete aus, die mit einer Gesamtfläche von 4,6 Millionen Hektaren in etwa der Fläche des deutschen Bundeslandes Niedersachsen entspricht. Außerdem setzen Naturschutzorganisationen auf die Aufklärung der Bevölkerung der betroffenen Gebiete und eine nachhaltigere Waldbewirtschaftung. Der WWF geht sogar noch einen Schritt weiter und hat sich zum Ziel gesetzt, die Entwaldung brasilianischer Regenwälder bis zum Jahr 2020 gänzlich zu stoppen.
Das mag angesichts des gnadenlosen Fortschrittes der Urbanisierung sehr hoch gesteckt klingen. Zumal man in Wörterbüchern zum Fortschritt das Synonym Intensivierung findet. Noch ist der Jaguar nicht vom Aussterben bedroht, doch die tagtäglich schwindende Fläche seines Verbreitungsgebietes sollte Anlass zu einer schnellen Lösungsfindung geben – wie auch immer diese aussehen mag.

Umweltschutz im 21. Jahrhundert ist, wie man sieht, eine komplizierte Angelegenheit. Die größte Gefahr für eine Tierart ist aber immer noch die Verfremdung der Menschen gegenüber der Natur. Denn ist sie in Gedanken bereits abgeschrieben, fehlt nicht mehr viel und das Konzept ist auch in der Realität umgesetzt. So gesehen, ist der beste Schutz des Jaguars auch der gleichzeitig einfachste: Die Bewusstseinserweckung unter der Bevölkerung; als selten zuvor gesehenes Tierschutzprojekt vielleicht auch die Einbindung des Jaguarbildes in die Gesellschaft.

Ob das in Zeiten von iPod, McDonalds und Co. überhaupt noch möglich ist, ist fraglich. Dass es überhaupt möglich ist, beweisen aber die frühen Hochkulturen. Beispielsweise die der Maya, die einen Gott in Jaguargestalt anbeteten. Trotz Gott der Unterwelt, schmückten sich Herrscher und Adelige nicht nur mit seinen Fellen und seinen Körperteilen, sondern nahmen seinen Namen sogar in ihren Familiennamen auf. Die Tiere selbst stellten mit ihrem anmutigen Auftreten und ihren tiefgründigen Augen das Tor zur spirituellen Welt dar.

Die Azteken führten zu ihrer Blütezeit zwei verschiedene Eliteeinheiten ihres Heeres: Die Adlerkrieger und die Ocēlōtl genannten Jaguarkrieger. Sie trugen meist aufwendigen Schmuck, waren mit Jaguarfellen bekleidet und zeichneten sich durch besondere kämpferische Leistungen aus.

Noch intensiver lebten die Mayoruna, ebenfalls ein Indianervolk, den Kult um den Jaguar aus. Nicht nur, dass ihre Waffen mit Jaguarzähnen bestückt waren, auch sie selbst wollten so eng wie möglich mit dem Tier verbunden sein. Sie bemalten nicht nur ihre Gesichter wie einen Jaguarkopf, sondern steckten sich sogar Stacheln durch die Lippen, welche die Schnurhaare der Katze symbolisieren sollten.

Und siehe da: Je intensiver dieser Kult ausgelebt wurde, desto größer war die Hemmung davor, einem Jaguar Leid zuzufügen.

Das heißt nicht, dass nicht vereinzelt Jaguare für ihre Felle und ihre Körperteile bejagt wurden. Doch im Gegensatz zur heutigen Kultur, lebten die indigenen Völker auch noch im Einklang mit der Umwelt. Während zur Zeit der Azteken und der Maya ein ständiges Nehmen, aber ebenso ein Geben stattfand, ist diese Mensch-Natur-Beziehung heute relativ einseitig. Und wenn zwei oder mehrere Parteien in der Natur Aussicht auf Beständigkeit haben wollen, dann bedarf es einer ganz speziellen Zutat: Ausgeglichenheit.


Foto 1: Jaguar, © Lea Maimone unter der Creative Commons Lizenz
Foto 2: Jaguar mit ausgeprägtem Melanismus > Panther, ©
Foto 3: Verbreitung des Jaguars einst (rot) und heute (grün), ©
Foto 4: Darstellung eines Jaguarkriegers (Azteken), ©

03 Mai 2010

Die faszinierende Welt der Muscheln

Zugegeben – Muscheln sind relativ unspektakulär. Von geringer Größe, wie sie nun einmal sind, verblassen sie geradezu im Schatten eines vorbeischwimmenden Haies oder im Angesicht einer Meeresschildkröte. Und dennoch nehmen sie in den Ozeanen eine zentrale Rolle ein. Eine Rolle, ohne die kein Leben in ihnen möglich wäre und ohne die auch die Menschheit ein anderes Leben führen würde. Bloß schade, dass die kleinen Schalenträger dennoch einer traurigen Zukunft entgegensehen.

So klein ihre Mitglieder, so groß die Familie

Muscheln – das sind gesichtslose Fleischklümpchen zwischen zwei Kalkblättchen; bunte Schalen, die wir vom Urlaub am Strand mitbringen; wenn es hoch hergeht, auch schon mal die unscheinbare Begleiterscheinung einer Meeresfrüchteplatte. Es ist schon traurig, auf welche vielfältige Art und Weise wir es verstehen, eine solch große und -mehr als das- entsscheidungstragende Tierklasse wie die der Muscheln, ihrer wahren Bedeutung und ihrer wahren Größe zu berauben. Viel zu oft verkennen wir, wenn sie einzeln vor uns liegen, ihre wichtige Rolle im ganzen System.

Erstens ist da der stark vernachlässigte Aspekt der Tierklasse. Denken wir an eine Muschel, sehen wir in Gedanken zwei Schalen, die, ineinander geschlossen, im großen, weiten Ozean umhertreiben – Je nachdem, denn es existieren unter Muscheln sowohl frei herum schwimmende, wie auch fest sitzende Vertreter. Jedenfalls würden wir nie an so etwas wie an eine Tausend-Arten-Population denken, geschweige denn von Farben- oder gar Formenvielfalt. Der Gedanke könnte zum Schluss noch an unserem Bild von den zwei einsamen Schalen rütteln. Tatsächlich aber kommen Muscheln mit nicht weniger als 7.500 verschiedenen Arten, rund um den Erdball, vor. Forscher schätzen sie, mit ihren Verwandten, die, in den Tiefen der Meere verborgen, bis dato unentdeckt blieben, gar auf 10.000 Stück und aus prähistorischer Zeit sind sogar 20.000 weitere Arten bekannt. Bei näherem Hinsehen stellt sich auch der ewige Mythos der Schlichtheit als unwahr heraus. Denn in Wahrheit gedeihen Muscheln am Meeresgrund in allen möglichen Formen, Farben und Größen. Von zwei Zentimetern bis zwei Metern ist so gut wie alles dabei. Sie sind bestückt mit Stacheln und Rillen, besitzen eine wellenförmige Schale, oder sehen gar aus wie eine Schnecke. Die Palette reicht vom acht Zentimeter großen, kugelförmigen Ochsenherz, über die rillendurchfurchte Jakobsmuschel bis hin zur über einen Meter langen, und einer halben Tonne schweren Riesenmuschel. Mit einem Wort: Vielfalt wird hier ganz groß geschrieben.

Doch um das wahre Wunderwerk der Natur, das an dieser Tiergruppe verrichtet wurde, bestaunen zu können, ist es gar nicht notwendig, so weit auszuholen. Es reicht schon, wenn man sich ein einzelnes der tausend verschiedenen Individuen herauspickt und es vom biologischen Gesichtspunkt noch einmal im Detail betrachtet. Man wird staunen, was sich hinter dem unscheinbaren Körper dieses kleinen Wesens, das locker in einem Trinkglas Platz findet, verbirgt. Denn entgegen der langläufigen Meinung, zwischen den Schalen, befinde sich bloß ein inhomogener Fleischkloß, ist eine Muschel ein Tier wie jedes andere. Es besitzt ein Kreislaufsystem, Geschlechtsorgane, Sinnesorgane und alles weitere, was ein Tier zu einem solchen macht. Eine Muschel gliedert sich grob in drei Teile, Falten genannt: Die äußerste Falte bildet die schützende Schale selbst. Die darunterliegende, mittlere Falte dient ihren Trägern dem Informationsgewinn. Denn bei fast allen Arten ist dieser Hautlappen hell-dunkel-empfindlich, sodass die Muschel erkennt, wann ein Fisch, eine Schildkröte oder eine andere potenzielle Gefahr über sie hinwegschwimmt. Wenige andere Muscheln, oftmals diejenigen, die in der Lage sind, sich durch Schließen und Öffnen ihrer Schale fortzubewegen, haben einen erhöhten Bedarf, ihre Umwelt aktiv wahrzunehmen. Erfordert es die Lebensweise einer solchen Muschel, mehr als nur diffuse Schatten wahrzunehmen, besitzt sie Punktaugen. Manche der 10.000 Arten, wie die Kammmuschel, besitzen nicht weniger als 200 Stück solcher Augen, mit denen sie Bewegungen rund um sich wahrnehmen.

Die unterste, innere Falte einer Muschel dient gewissermaßen als Torwächter für alle einströmenden Partikel. Denn sie reguliert den Wasserstrom, mit dem die Muschel nicht nur mit Nahrungspartikeln, sondern ebenfalls mit Sauerstoff versorgt wird. Der Wasserstrom wird an den -bei den meisten Arten- wimpernförmigen Kiemen abgefangen. Kleine Partikel werden von hier aus augenblicklich an den Mund weitergeleitet. Die Kiemen nehmen unterdessen den Sauerstoff aus dem Wasser auf. Manche Arten, wie beispielsweise die Sandklaffmuschel, führen ein Leben im Sediment. Sie besitzen daher einen Schlauch -Siphon genannt-, der, länger als sie selbst, an die Wasseroberfläche reicht und von dort den Sauerstoff in die Tiefe leitet.

In Bewegung gehalten wird das ganze System von einem winzig kleinen Herz, das aus zwei Vor- und einer Hauptkammer besteht. Anders als beim Menschen, findet der Sauerstofftransport in einem offenen Blutkreislauf statt, was bedeutet, dass die Tiere keine Adern besitzen.

Wie überall in der Wildtierökologie, ist es aber auch bei den Muscheln, nicht das Individuum, sondern die Gesamtheit dieser Tiere, welche ausschlaggebend ist. Und speziell in diesem Fall, ist die Gesamtheit der verschiedenen Muschelpopulationen, sogar im höchsten Maße ausschlaggebend. Und zwar für ihre Umwelt: Die Meere, in denen wir baden, aus denen wir unsere Nahrung beziehen und ohne denen die Menschheit schlicht nicht sein könnte.

Kleine Tiere im Mittelpunkt

Im Ökosystem Meer ist die Rolle, welche Muscheln einnehmen, unabdingbar. Die ökologische Nische, die sie besetzen, ist mit keiner anderen vergleichbar, denn kein anderes niederes Tier ist Nahrungslieferant für nahrungskettenhöhere Tiere, Wasseraufwerter und direkter sowie indirekter Wirtschaftsmittelpunkt für den Menschen zugleich. Muscheln haben es im Laufe der Evolution und im Zuge der Industrialisierung zu all dem geschafft.

Somit ist es eine der wichtigsten Aufgaben einer Muschel -so traurig es auch klingen mag- gefressen zu werden. Denn Muscheln nehmen sowohl in Meeren, wie auch in Flüssen und Seen, ganz so wie Krill, Schnecke und Co., eine der niedrigsten Stufen in der Nahrungskette ein. Für ihren Lebensraum und ihr Ökosystem sind sie daher umso wichtiger, denn durch ihre untergeordnete Rolle stellen sie die Lebensgrundlage für höhere Lebewesen und in weiterer Folge für ihren gesamten Lebensraum dar. Zu jenen Tieren, die ihr Dasein zum Teil oder ganz der Muschelpopulation verdanken, zählen unter anderem Seesterne, Robben, Schildkröten, tausende Fischarten und der -mit unserem heimischen Fischotter verwandte- Seeotter. Sieht man also einmal von der niedrigen Stufe in der Nahrungskette ab, die Muscheln einnehmen, so könnte man sagen, dass sie in ihrer Umwelt im Mittelpunkt stünden.

Darüber hinaus ist ein weiterer „Fressfeind“ der Muschel, um die Nahrungskette weiter hinaufzuklettern, der uneingeschränkte König der Kette selbst – der Mensch. Obgleich der Muschelfang in der globalen Fischereiindustrie eher eine Randposition einnimmt, ist er stark ortsabhängig. Mancherorts hat es das Fischen nach den Schalenträgern sogar geschafft, zu einem eigenen Industriezweig heranzureifen. Bestes Beispiel hierfür ist die Chesapeake Bay im Osten der USA – zumindest jene Chesapeake Bay der vergangenen Zeit. Umspült wird die Bucht zwischen den US-Bundesstaaten Maryland und Virginia von zehn verschiedenen Flüssen, darunter solche Größen wie der York River. Durch ihren unglaublich vielfältigen Muschelreichtum wurde die Bucht weltbekannt, allem voran durch die wohlschmeckenden Austern und Venusmuscheln. Die berühmten Chesapeake Bay-Muscheln wurden in die ganze Welt verschickt und die Städte rund um die Bucht erlebten einen Wirtschaftboom, wie er in der Geschichte von Fischerorten nur selten zuvor vorgekommen war. Der Reichtum an Muschelpopulationen ging kurzzeitig gar soweit, dass die einzelnen Ansammlungen der Weichtiere drohten, den Schifffahrtsverkehr in der Bucht lahmzulegen. Die Schalen der Tiere waren scharfkantig und die Bucht bloß sechs Meter, stellenweise sogar nur zwei Meter tief. Wenngleich die Muscheln zu einer Gefahr zu werden drohten, bescherten sie den Fischern der Chesapeake Bay ein Leben in Wohlstand. Eine Fischereilizenz für die Bucht zu besitzen, kam, vom finanziellen Aspekt her, einer Anstellung als Manager gleich. Somit bewiesen die Schalenträger, dass sie auch in puncto Wirtschaft in der Lage sind, ganz groß mitzumischen.

Ein weiterer Punkt für die tragende Rolle einer gesunden Muschelpopulation im Meer ist die Aufgabe der kleinen Tierchen als Filtrierer. Denn sobald eine Muschel beginnt, Wasser in ihren Schlund fließen zu lassen, gelangen nicht nur Sauerstoff und Nahrungspartikel an ihre Kiemen, sondern auch alle gelösten und festen Schadstoffe. Mit dieser Reinigungswirkung kommt die Funktion von Muscheln im Wasser etwa der Funktion von Pflanzen am Land gleich. Muschelbänke die Regenwälder der Meere? Man könnte zu diesem Schluss kommen, denn bei der Säuberung der Meere sind sie nicht weniger effektiv wie Wälder bei der Reinigung der Luft. Eine einzige kleine Muschel schafft es, pro Tag unglaubliche 200 Liter Wasser durch ihren Körper fließen zu lassen und es von Schadstoffen zu befreien.

Vom Umweltschutzgedanken her eine grandiose Einrichtung der Natur. Die Menschheit pumpt ihre Abwässer in die Meere und muss bloß darauf achten, ausreichend Muschelbänke zu erhalten, die für sie die Reinigung übernehmen. Tatsächlich käme dieses Prinzip aber einer Wunschvorstellung gleich. Denn die Muschel-Filtration findet nicht etwa in einem langen Strang statt, wie eben beschrieben, sondern in einem einzig großen Rad, gleichsam einem Kreislauf. Alles Handeln der Menschheit kommt früher oder später auf sie zurück und exakt so verhält es sich auch mit dem Muschelprinzip.

Der Kreislauf und der Einfluss

Die Abwässer von Privathaushalten und Fabriken werden in die Weltmeere entlassen. Muscheln filtrieren sie und speichern sie in ihrem Körper, dessen Fleisch vom Menschen verzehrt wird und die Giftstoffe auf diese Weise wiederum in seinen Körper gelangen. Aus diesem Grund keine Muscheln zu essen, käme einer Selbstlüge gleich, denn wenn eine Muschel nicht vom Menschen verzehrt wird, fällt sie einem der zahllosen Raubfische zu Opfer, der, wenn er nicht vom Menschen gegessen wird, wiederum von einem noch größeren Fisch verzehrt wird. Auf diese Weise reichern sich die Giftstoffe sogar noch an und landen irgendwann unweigerlich in Form eines Schwertfischfilets oder eines Fischstäbchens beim Menschen. Aber auch Fischverächter und Vegetarier kommen nicht um den Genuss der Toxine herum. Denn noch immer wird weltweit so manche Muschelart, allem voran die Miesmuschel, als Dünger verwendet. Ernährungsguru Taras Grescoe zieht in seinem Buch Der letzte Fisch im Netz einen treffenden Vergleich. Er schreibt, Meerestiere als Dünger für andere Lebensmittel zu verwenden, käme einem Steak gleich, das auf einem Grill mit Briketts aus Rindfleisch zubereitet worden wäre.

Ein trauriges Beispiel für die Bedrohung der Muschelbänke findet außerdem unmittelbar vor der Haustür Europas statt: Im Mittelmeer. Trotz seiner Nährstoffarmut ist es das zu Hause zahlreicher Muschelarten, von denen manche exquisite Speisemuscheln abgeben. Gleichzeitig werden jedoch de facto pro Jahr nicht weniger als 600.000 Liter Öl in ebenjenes Meer vergossen. Sei es durch Schiffunglücke, Fabriken am Meer und an einem seiner Zuflüsse, oder auch durch das Ballastwasser der Schiffe. Muscheln filtrieren die im Öl enthaltenen Giftstoffe und reichern sie in ihrem kleinen Körper an. Früher oder später gelangt schließlich auch der Mensch im Ablauf der Nahrungskette an diese Schwermetalle und anderen Toxine.

Das Ballastwasser von Schiffen stellt darüber hinaus wiederum selbst eine Bedrohung für Muscheln und andere Arten dar. Legt ein Schiff beispielsweise im Hafen von Sydney ab, so nimmt es von hier Wasser auf, um genügend Masse zu haben. In seinem Zielhafen angelangt, entlässt es dieses Wasser wieder in die Natur. Neben dem beschriebenen Ölausfluss kommt an dieser Stelle obendrein die Bedrohung durch eingeschleppte Arten hinzu, die in den Tanks der Schiffe mitreisen. Ein besonders böswilliger Eindringling -und ein Musterbeispiel für einen eroberungswütigen Neozoon- ist die Alge Caulerpa taxifolia. Ursprünglich in den Gewässern rund um Australien beheimatet, treibt sie nun ihr Unwesen im Mittelmeer. Sie verdrängt zunehmend die artenreichen Seegraswiesen und besiedelt auch andere Lebensräume. Muscheln und andere Meerestiere werden aus ihrem Biotop verdrängt, ehe sie von Region zu Region aussterben.

Die Chesapeake Bay

Doch tatsächlich verblasst all das, in Anbetracht dessen, was die Menschheit der Chesapeake Bay, im Osten der USA angetan hat. Denn nicht umsonst war bisher in der Vergangenheit von der Chesapeake Bay als „Fisherman’s Paradise“ die Rede. Aber noch einmal zurück: Die Chesapeake Bay war ein Paradies für Fischer jeglicher Art. Die Gründe der sechs Meter tiefen Bucht waren übervoll von Austern, Venusmuscheln, Krabben, Krebsen, und Unmengen von anderen Meeresfrüchten und Fischen. Buchautor und Journalist H. L. Mencken bezeichnete sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in Anspielung auf den Nährstoffgehalt der Tiere, treffend als natürliche Proteinfabrik. Der Boom von Muschel, Krabbe und Co. ging sogar so weit, dass in der Blüte der Bucht bis zu 7.000 Fischer ihre Netze darin auswarfen.

Heute ist es nur noch ein Bruchteil von dieser Zahl. Heute herrscht eine ganz andere Form der Blüte vor: Die Algenblüte. Der grüne Teppich der Zerstörung breitet sich unweigerlich aus, überzieht alles mit einem grünen Schleier und homogenisiert mit der Zeit all den Reichtum, welcher der Bucht zu ihrem Ansehen verholfen hat. Und gleich, um welchen Faktor es sich handelt, in der Chesapeake Bay finden Algen alles, was sie für ein reichhaltiges Wachstum benötigen. Die Erwärmung des Klimas und der Meere machen die Bucht zu einer Art dahinsiedenden Suppe. Während sie vor etlichen Jahren noch im Winter zufror und so die Chance hatte, Bakterien und Algen abzutöten, ist das Wasser darin heute so warm, dass es das Wachstum und die Ausbreitung der Algen nur noch beschleunigt. Die zunehmende Urbanisierung lies ebenfalls die Landwirtschaft rund um die Bucht und vor allem rund um die Flüsse aufleben. Düngermittel werden tagtäglich von den Feldern in die Bucht gespült und treiben hier das Algenwachstum voran. Die Fabriken rund um die Bucht nahmen von Jahr zu Jahr zu und mit ihnen auch die Giftstoffe, welche tagtäglich in die Bucht entlassen werden.

So verwandelt sich die Chesapeake Bay allmählich in einen vor sich hin gärenden Sud, versetzt mit Giftstoffen und Algen. Dass Muscheln hier mit ihrer Filtration nicht lange mithalten können, ist einleuchtend. Taras Grescoe schrieb weiter in seinem Buch, die Muscheln filtrierten sich in der Chesapeake Bay ihre kleinen Seelen aus dem Leib.

Mit der Zeit gingen die Bestände an Muscheln, Fisch und anderen Tieren stark zurück, nicht zuletzt auch durch die jahrelange Überfischung. Zwar sind die weltweiten Hauptexporteure von Krabben heute immer noch jene Unternehmen an der Chesapeake Bay, doch an Muscheln und anderen Meeresfrüchten wird es nachweislich knapp. Und ganz ehrlich: Wer will schon Muscheln, die sich die Seele aus dem Leib filtrieren, und Krabben, die mit Neurotoxinen und sonstigen krebserregenden Giftstoffen gespickt sind, zu sich nehmen?

Die oftmals finanziell teurere, aber gesundheitstechnisch vielfach günstigere Variante, bleiben bis in ferne Zukunft wohl die nachhaltigen Muschelzuchten, die gewissermaßen zu ihrer Gründung gezwungen werden.

Im Theater des Lebens, in dem eine der Bühnen die Weltmeere sind, gibt es mehrere Hauptrollen zu besetzen. Die Rolle der Muscheln mag angesichts von 30 Meter langen Walen, scharfzahnigen Haien und schillernden Riesenschildkröten nicht unbedingt eine von ihnen sein. Doch gibt es für eine solch wichtige Aufgabe, wie sie Muscheln in den Weltmeeren übernehmen, überhaupt eine angemessene Nebenrolle zu vergeben? Wahrscheinlich nicht. Schließlich haben sich die Tiere, die sich im Hintergrund halten, dafür aber das ganze Meer am laufen halten, es von Schadstoffen befreien und anderen Arten erst das Dasein ermöglichen, doch mehr verdient. Vielleicht aber findet sich die Rolle der Muschel somit gar nicht auf der Bühne wieder. Möglicherweise ist es ja sie, die sich hinter dem Vorhang verdeckt hält und von dort alle Stricke zieht. Auf sie zu verzichten, ist jedenfalls keine Lösung.


Foto 1: Jakobsmuschel, © Andreas Tille unter der GNU-Lizenz
Foto 2: Der Schlund einer Muschel (mit sichtbaren Augen), ©

Foto 3: Große Riesenmuschel, ©

Foto 4: Ochsenherz, © Andreas Hoffmann

Foto 5: Die Chesapeake Bay, © Benjamin Graves unter der Creative Commons Lizenz