24 Mai 2010

Schöne Seltenheit: Jaguar

Geschichtsträchtig, allerseits respektieret und von hoheitlicher Anmut. Der Jaguar ist der unumstrittene König des Dschungels, sein Reich umfasst weite Teile Südamerikas. Doch über sein tropisches Königreich zieht ein dunkler Schatten herein, ein Schatten der Zerstörung und der Vernichtung. Allein in den letzten Jahrzehnten schrumpfte sein Herrschaftsgebiet um die Hälfte und der Jaguar selbst muss sich auch immer häufiger böswilligen Verfolgern gegenübersehen. Er mag zwar der König des Dschungels sein, doch diese Ehre trägt auch einen hohen Preis mit sich, denn der Jaguar erlebt es hautnah mit, was es heißt, ein Monarch im 21. Jahrhundert zu sein.

Der Jaguar ist der König des Dschungels. Von Mexiko im Norden bis hin nach Argentinien im Süden erstreckt sich sein Reich. In diesem Gebiet ist er der uneingeschränkte Herrscher, Herr der Nahrungskette und Richter über Leben und Tod. Die restliche Tierwelt verneigt sich vor seinem Antlitz. Hoheitlich trägt er sein schwarz getupftes Herrscherkleid und zweifelt jemand an seiner Stellung, zögert er nicht, seine fingerlangen Eckzähne als Machtbeweis zu zeigen. Und auch die Verwandtschaft mit Löwe, Tiger und Co. –ihrerseits selbst Könige ihres Lebensraumes– beweist: der Jaguar stammt aus wahrlich königlichem Haus.

Und dennoch hat er bei genauerem Hinsehen etwas ganz und gar Unkönigliches an sich; eine Eigenschaft, die jeder König aus seinem Repertoire streichen sollte. Denn der König des Dschungels hat Lampenfieber vor großen Auftritten. Mit seinen sporadischen Kurzauftritten hat er gar etwas von einem Waldgeist an sich. Kaum hat man ihn gesehen, ist er auch schon wieder verschwunden. Tatsächlich ist der Jaguar eine der scheusten Großkatzen. Es scheuen nicht nur andere Tiere seinen Kontakt, auch er geht anderen Tieren und Menschen lieber aus dem Weg. Die meiste Zeit des Tages (laut Untersuchungen 40 bis 50 Prozent) verbringt er sogar schlafend im Unterholz. Während man früher aus genau diesem Grund annahm, der Jaguar sei ausschließlich nachtaktiv, weiß man es heute besser. Während er die Haupttageszeit in einem versteckten Winkel vor sich hin döst, wird er bereits in den Nachmittagsstunden aktiv. Zu dieser Tageszeit demonstriert er dann wieder, dass er sich seine hohe Stellung redlich verdient hat. Denn einem König angemessen, geht er nun auf die Jagd. So gesehen, hat er allerdings auch etwas von einem Guerilla-Krieger, der sich den ganzen Tag versteckt, plötzlich zuschlägt und so schnell er da war, auch schon wieder verschwunden ist.

Das Beutespektrum des Jaguars ist äußerst breit, was er in erster Linie seinen beiden Jagdmethoden verdankt. Während die meisten Räuber bloß auf eine Art an ihre Beute herankommen, ist der König des Dschungels sowohl als Anpirschjäger im Unterholz, aber auch als Ansitzjäger auf den dicken Ästen von Bäumen aktiv. In beiden Fällen tötet er seine Beute –von Gürteltieren über Hirsche bis hin zu Affen– mit einem gekonnten Biss in den Schädel – eine Einzigartigkeit, wie sie unter Katzen eigentlich nur beim Jaguar vorkommt. Aber auch sonst zeigt sich schnell, sobald es ums Jagen geht, dass der Jaguar eine untypische Katze ist. Während sich andere Vertreter seiner Familie eher an ein untergehendes Schiff krallen würden, bevor sie zwei Schritte im Wasser auf das rettende Land machen, ist der Jaguar dem Wasser in keinster Weise abgeneigt. Bietet sich die Gelegenheit, geht er sogar in diesem Element auf die Jagd, um einen Fisch, hin und wieder gar einen Kaiman, oder auch eine Schildkröte zu erbeuten. Das Knacken ihres Panzers ist für ihn die leichteste Übung, nicht nur wegen seiner spitzen Zähne, sondern auch dank seines enormen Schädels, mit dem er einen ebenso enormen Druck aufbauen kann. Bleibt von der kostbaren Mahlzeit nach dem Fressen noch etwas übrig, vergräbt der Jaguar die Reste für knappere Zeiten unter der Erde.

Dieses Fressverhalten des Jaguars, wie es auf diese Weise in allen Lexika und Tierenzyklopädien zu lesen ist, beschreibt allerdings leider nur die halbe Wahrheit. Denn das Beutespektrum des felltragenden Königs reicht darüber hinaus und beinhaltet so gut wie alles, was viel Fleisch verspricht und erlegt werden kann – Eine Eigenschaft, die ihn nur allzu oft in ein schlechtes Licht rücken lässt und ihn immer wieder zum Verhängnis wird.

Denn ein Wildtier, das an einer bereits vorbereiteten Mahlzeit vorüberkommt, wird diese wohl kaum verschmähen und auf eine Gelegenheit warten, die seinen Jagdinstinkt mehr fordert. Doch nicht selten besitzt eine solche vorbereitete Mahlzeit die Form eines festgebundenen Schweins, oder die eines Gatters voller Rinder. Das rasante Bevölkerungswachstum Südamerikas und die damit verbundene Ausweitung der Landwirtschaft und die Zunahme der Viehzuchtbetriebe tragen auch nicht gerade dazu bei, die Versuchung zu schmälern.

Sobald ein Jaguar bis zu einer Farm vordringt und Vieh reißt, entsteht unweigerlich eine Konfliktsituation; ein Kampf zwischen Mensch und Tier. Und tatsächlich haben beide Gegner gute Argumente, warum sie diesen Kampf austragen. Der Mensch hat das Vieh domestiziert, kümmert sich darum und bewirtschaftet es ähnlich einem Acker. Da ist es doch sein gutes Recht, es auch gegen Angreifer zu verteidigen. Der Jaguar könnte hingegen den Standpunkt vertreten, dass er sich nur nimmt, was ihm zusteht. Denn schließlich ist es sein Gebiet, er ist der König. Und tatsächlich ist es nicht er, der auf die Farmen der Menschen vordringt, sondern die Menschen, die zunehmend in sein Königreich vordringen. Möglicherweise ist dieser Konflikt aber auch nichts anderes, als die Evolution in einer ihrer vielen Gestalten.

Was ist Evolution? Grob gesagt, das Überleben des Stärkeren, nachdem der Kampf um Nahrung und allem voran um Lebensraum ausgetragen wurde. Und genau diese Beschreibung trifft auf den Konflikt zwischen Mensch und Jaguar zu, bloß, dass der Kampf zu dieser Stunde am Laufen ist. Der Ausgang ist ungewiss, doch wenn Mensch und Tier im 21. Jahrhundert miteinander kämpfen, ist er zumindest absehbar.

Es mag unnatürlich klingen, aber dennoch ist fraglich, ob die Evolution, ein Prozess, der so alt ist, wie das Leben selbst, in der Form, wie sie hier stattfindet, in Zeiten wie diesen ethisch noch überhaupt vertretbar ist.

Vielleicht sollte man sich das Problem dabei einfach mal näher ansehen. Der Jaguar ist, wie oben beschrieben, ein Viehräuber. Der Kampf um die Nahrung ist also de facto gegeben. Die zweite Komponente der Evolution, der Kampf um Lebensraum, ist ebenso existent. Denn obwohl der Jaguar der unumstrittene König des Dschungels ist, steht eins ganz gewiss fest: Sein Königreich schwindet.

Das heutige Verbreitungsgebiet des Jaguars reicht vom westlichen Mexiko über ganz Zentralamerika und Amazonien, bis hin nach Argentinien. Noch bis vor fünfzig Jahren erstreckte sich dieses Gebiet sogar noch bis in den Südwesten der USA. Erst im Jahr 1963 wurde der offiziell letzte Jaguar auf US-amerikanischen Boden erschossen. Scheinbar aber konnten sich ein paar einzelne der Tiere im Hinterland halten, sodass die Sichtungen von Jaguaren noch in etwa auf die Jahrtausendwende zurückgehen. Möglicherweise waren diese wenigen Einzelgänger aber auch aus Mexiko die Landkarte hinaufgezogen. Sicher ist allerdings, dass sie keinen Einfluss mehr auf die Gesamtpopulation des Jaguars haben und mit dem Abschuss im Jahr 1963 ein historischer Meilenstein in der Ausrottung des Jaguars gelegt wurde.

Allein in den letzten Jahrzehnten schrumpfte das Verbreitungsgebiet –die USA bereits außer Acht gelassen– um rund die Hälfte. Die Ursache ist, wenn man so will, eine alte Bekannte: Die Regenwaldzerstörung. Abholzung, Nutzbarmachung für die Landwirtschaft und galoppierende Urbanisierung im Namen des Fortschritts – aber auf Kosten eines einzigartigen Ökosystems und dessen Bewohner.

Wirft sich wieder einmal die Frage auf, ob der Fortschritt des Menschen zugunsten der Tiere aufgehalten werden darf, denn im Gunde holt Südamerika doch jetzt nach, was Europa oder die USA bereits in den letzen hundert Jahren vollbracht haben. Fakt ist, man kann den Fortschritt nicht aufhalten, Fakt ist aber auch, dass der Lebensraum, in dem wir leben dabei nicht zu kurz kommen darf. Ein Kompromiss muss gefunden werden.

Ein erster Versuch, den Jaguar vor der hungrigen Mühle des Fortschrittes zu schützen, ist seine Aufnahme in das Washingtoner Artenschutzabkommen im Jahr 1973. Darin wird festgehalten, dass der Handel mit Fellen und Körperteilen von Jaguaren verboten ist und denjenigen, der sich über dieses Verbot hinwegsetzt, hohe Strafen erwarten. Das war insofern wichtig, als in den 1960er Jahren laut Schätzungen jährlich 15.000 Jaguare erlegt und –zu jener Zeit legal– auf den Markt gebracht wurden – Und diese Zahl stammt allein aus dem brasilianischen Gebiet Amazoniens. So gesehen war das Washingtoner Artenschutzabkommen vor rund vierzig Jahren ein voller Erfolg.

Doch nach heutigen Maßstäben betrachtet, handelt es sich bestenfalls um einen Teilerfolg, einen kleinen Schritt auf dem langen Weg zum Schutz des Jaguars. Denn auch wenn der Weg zum Schutz des Jaguars mit den Schuhen des Gesetzes begangen werden muss, schlägt er dennoch eine andere Richtung ein. Denn die einzige Möglichkeit, einen nachhaltigen Schutz für diese Tierart zu gewährleisten, ist, ihren gesamten Lebensraum zu schützen – und das im Einklang mit dem Fortschritt.

Und hat man diesen Weg erst als den wahren anerkannt, werden einem erst die tausende von Problemstellungen bewusst. Aber: Es werden einem auch die Augen für die ersten Erfolge geöffnet. Im Jahr 2008 beispielsweise wies die Regierung Brasiliens Schutzgebiete aus, die mit einer Gesamtfläche von 4,6 Millionen Hektaren in etwa der Fläche des deutschen Bundeslandes Niedersachsen entspricht. Außerdem setzen Naturschutzorganisationen auf die Aufklärung der Bevölkerung der betroffenen Gebiete und eine nachhaltigere Waldbewirtschaftung. Der WWF geht sogar noch einen Schritt weiter und hat sich zum Ziel gesetzt, die Entwaldung brasilianischer Regenwälder bis zum Jahr 2020 gänzlich zu stoppen.
Das mag angesichts des gnadenlosen Fortschrittes der Urbanisierung sehr hoch gesteckt klingen. Zumal man in Wörterbüchern zum Fortschritt das Synonym Intensivierung findet. Noch ist der Jaguar nicht vom Aussterben bedroht, doch die tagtäglich schwindende Fläche seines Verbreitungsgebietes sollte Anlass zu einer schnellen Lösungsfindung geben – wie auch immer diese aussehen mag.

Umweltschutz im 21. Jahrhundert ist, wie man sieht, eine komplizierte Angelegenheit. Die größte Gefahr für eine Tierart ist aber immer noch die Verfremdung der Menschen gegenüber der Natur. Denn ist sie in Gedanken bereits abgeschrieben, fehlt nicht mehr viel und das Konzept ist auch in der Realität umgesetzt. So gesehen, ist der beste Schutz des Jaguars auch der gleichzeitig einfachste: Die Bewusstseinserweckung unter der Bevölkerung; als selten zuvor gesehenes Tierschutzprojekt vielleicht auch die Einbindung des Jaguarbildes in die Gesellschaft.

Ob das in Zeiten von iPod, McDonalds und Co. überhaupt noch möglich ist, ist fraglich. Dass es überhaupt möglich ist, beweisen aber die frühen Hochkulturen. Beispielsweise die der Maya, die einen Gott in Jaguargestalt anbeteten. Trotz Gott der Unterwelt, schmückten sich Herrscher und Adelige nicht nur mit seinen Fellen und seinen Körperteilen, sondern nahmen seinen Namen sogar in ihren Familiennamen auf. Die Tiere selbst stellten mit ihrem anmutigen Auftreten und ihren tiefgründigen Augen das Tor zur spirituellen Welt dar.

Die Azteken führten zu ihrer Blütezeit zwei verschiedene Eliteeinheiten ihres Heeres: Die Adlerkrieger und die Ocēlōtl genannten Jaguarkrieger. Sie trugen meist aufwendigen Schmuck, waren mit Jaguarfellen bekleidet und zeichneten sich durch besondere kämpferische Leistungen aus.

Noch intensiver lebten die Mayoruna, ebenfalls ein Indianervolk, den Kult um den Jaguar aus. Nicht nur, dass ihre Waffen mit Jaguarzähnen bestückt waren, auch sie selbst wollten so eng wie möglich mit dem Tier verbunden sein. Sie bemalten nicht nur ihre Gesichter wie einen Jaguarkopf, sondern steckten sich sogar Stacheln durch die Lippen, welche die Schnurhaare der Katze symbolisieren sollten.

Und siehe da: Je intensiver dieser Kult ausgelebt wurde, desto größer war die Hemmung davor, einem Jaguar Leid zuzufügen.

Das heißt nicht, dass nicht vereinzelt Jaguare für ihre Felle und ihre Körperteile bejagt wurden. Doch im Gegensatz zur heutigen Kultur, lebten die indigenen Völker auch noch im Einklang mit der Umwelt. Während zur Zeit der Azteken und der Maya ein ständiges Nehmen, aber ebenso ein Geben stattfand, ist diese Mensch-Natur-Beziehung heute relativ einseitig. Und wenn zwei oder mehrere Parteien in der Natur Aussicht auf Beständigkeit haben wollen, dann bedarf es einer ganz speziellen Zutat: Ausgeglichenheit.


Foto 1: Jaguar, © Lea Maimone unter der Creative Commons Lizenz
Foto 2: Jaguar mit ausgeprägtem Melanismus > Panther, ©
Foto 3: Verbreitung des Jaguars einst (rot) und heute (grün), ©
Foto 4: Darstellung eines Jaguarkriegers (Azteken), ©

03 Mai 2010

Die faszinierende Welt der Muscheln

Zugegeben – Muscheln sind relativ unspektakulär. Von geringer Größe, wie sie nun einmal sind, verblassen sie geradezu im Schatten eines vorbeischwimmenden Haies oder im Angesicht einer Meeresschildkröte. Und dennoch nehmen sie in den Ozeanen eine zentrale Rolle ein. Eine Rolle, ohne die kein Leben in ihnen möglich wäre und ohne die auch die Menschheit ein anderes Leben führen würde. Bloß schade, dass die kleinen Schalenträger dennoch einer traurigen Zukunft entgegensehen.

So klein ihre Mitglieder, so groß die Familie

Muscheln – das sind gesichtslose Fleischklümpchen zwischen zwei Kalkblättchen; bunte Schalen, die wir vom Urlaub am Strand mitbringen; wenn es hoch hergeht, auch schon mal die unscheinbare Begleiterscheinung einer Meeresfrüchteplatte. Es ist schon traurig, auf welche vielfältige Art und Weise wir es verstehen, eine solch große und -mehr als das- entsscheidungstragende Tierklasse wie die der Muscheln, ihrer wahren Bedeutung und ihrer wahren Größe zu berauben. Viel zu oft verkennen wir, wenn sie einzeln vor uns liegen, ihre wichtige Rolle im ganzen System.

Erstens ist da der stark vernachlässigte Aspekt der Tierklasse. Denken wir an eine Muschel, sehen wir in Gedanken zwei Schalen, die, ineinander geschlossen, im großen, weiten Ozean umhertreiben – Je nachdem, denn es existieren unter Muscheln sowohl frei herum schwimmende, wie auch fest sitzende Vertreter. Jedenfalls würden wir nie an so etwas wie an eine Tausend-Arten-Population denken, geschweige denn von Farben- oder gar Formenvielfalt. Der Gedanke könnte zum Schluss noch an unserem Bild von den zwei einsamen Schalen rütteln. Tatsächlich aber kommen Muscheln mit nicht weniger als 7.500 verschiedenen Arten, rund um den Erdball, vor. Forscher schätzen sie, mit ihren Verwandten, die, in den Tiefen der Meere verborgen, bis dato unentdeckt blieben, gar auf 10.000 Stück und aus prähistorischer Zeit sind sogar 20.000 weitere Arten bekannt. Bei näherem Hinsehen stellt sich auch der ewige Mythos der Schlichtheit als unwahr heraus. Denn in Wahrheit gedeihen Muscheln am Meeresgrund in allen möglichen Formen, Farben und Größen. Von zwei Zentimetern bis zwei Metern ist so gut wie alles dabei. Sie sind bestückt mit Stacheln und Rillen, besitzen eine wellenförmige Schale, oder sehen gar aus wie eine Schnecke. Die Palette reicht vom acht Zentimeter großen, kugelförmigen Ochsenherz, über die rillendurchfurchte Jakobsmuschel bis hin zur über einen Meter langen, und einer halben Tonne schweren Riesenmuschel. Mit einem Wort: Vielfalt wird hier ganz groß geschrieben.

Doch um das wahre Wunderwerk der Natur, das an dieser Tiergruppe verrichtet wurde, bestaunen zu können, ist es gar nicht notwendig, so weit auszuholen. Es reicht schon, wenn man sich ein einzelnes der tausend verschiedenen Individuen herauspickt und es vom biologischen Gesichtspunkt noch einmal im Detail betrachtet. Man wird staunen, was sich hinter dem unscheinbaren Körper dieses kleinen Wesens, das locker in einem Trinkglas Platz findet, verbirgt. Denn entgegen der langläufigen Meinung, zwischen den Schalen, befinde sich bloß ein inhomogener Fleischkloß, ist eine Muschel ein Tier wie jedes andere. Es besitzt ein Kreislaufsystem, Geschlechtsorgane, Sinnesorgane und alles weitere, was ein Tier zu einem solchen macht. Eine Muschel gliedert sich grob in drei Teile, Falten genannt: Die äußerste Falte bildet die schützende Schale selbst. Die darunterliegende, mittlere Falte dient ihren Trägern dem Informationsgewinn. Denn bei fast allen Arten ist dieser Hautlappen hell-dunkel-empfindlich, sodass die Muschel erkennt, wann ein Fisch, eine Schildkröte oder eine andere potenzielle Gefahr über sie hinwegschwimmt. Wenige andere Muscheln, oftmals diejenigen, die in der Lage sind, sich durch Schließen und Öffnen ihrer Schale fortzubewegen, haben einen erhöhten Bedarf, ihre Umwelt aktiv wahrzunehmen. Erfordert es die Lebensweise einer solchen Muschel, mehr als nur diffuse Schatten wahrzunehmen, besitzt sie Punktaugen. Manche der 10.000 Arten, wie die Kammmuschel, besitzen nicht weniger als 200 Stück solcher Augen, mit denen sie Bewegungen rund um sich wahrnehmen.

Die unterste, innere Falte einer Muschel dient gewissermaßen als Torwächter für alle einströmenden Partikel. Denn sie reguliert den Wasserstrom, mit dem die Muschel nicht nur mit Nahrungspartikeln, sondern ebenfalls mit Sauerstoff versorgt wird. Der Wasserstrom wird an den -bei den meisten Arten- wimpernförmigen Kiemen abgefangen. Kleine Partikel werden von hier aus augenblicklich an den Mund weitergeleitet. Die Kiemen nehmen unterdessen den Sauerstoff aus dem Wasser auf. Manche Arten, wie beispielsweise die Sandklaffmuschel, führen ein Leben im Sediment. Sie besitzen daher einen Schlauch -Siphon genannt-, der, länger als sie selbst, an die Wasseroberfläche reicht und von dort den Sauerstoff in die Tiefe leitet.

In Bewegung gehalten wird das ganze System von einem winzig kleinen Herz, das aus zwei Vor- und einer Hauptkammer besteht. Anders als beim Menschen, findet der Sauerstofftransport in einem offenen Blutkreislauf statt, was bedeutet, dass die Tiere keine Adern besitzen.

Wie überall in der Wildtierökologie, ist es aber auch bei den Muscheln, nicht das Individuum, sondern die Gesamtheit dieser Tiere, welche ausschlaggebend ist. Und speziell in diesem Fall, ist die Gesamtheit der verschiedenen Muschelpopulationen, sogar im höchsten Maße ausschlaggebend. Und zwar für ihre Umwelt: Die Meere, in denen wir baden, aus denen wir unsere Nahrung beziehen und ohne denen die Menschheit schlicht nicht sein könnte.

Kleine Tiere im Mittelpunkt

Im Ökosystem Meer ist die Rolle, welche Muscheln einnehmen, unabdingbar. Die ökologische Nische, die sie besetzen, ist mit keiner anderen vergleichbar, denn kein anderes niederes Tier ist Nahrungslieferant für nahrungskettenhöhere Tiere, Wasseraufwerter und direkter sowie indirekter Wirtschaftsmittelpunkt für den Menschen zugleich. Muscheln haben es im Laufe der Evolution und im Zuge der Industrialisierung zu all dem geschafft.

Somit ist es eine der wichtigsten Aufgaben einer Muschel -so traurig es auch klingen mag- gefressen zu werden. Denn Muscheln nehmen sowohl in Meeren, wie auch in Flüssen und Seen, ganz so wie Krill, Schnecke und Co., eine der niedrigsten Stufen in der Nahrungskette ein. Für ihren Lebensraum und ihr Ökosystem sind sie daher umso wichtiger, denn durch ihre untergeordnete Rolle stellen sie die Lebensgrundlage für höhere Lebewesen und in weiterer Folge für ihren gesamten Lebensraum dar. Zu jenen Tieren, die ihr Dasein zum Teil oder ganz der Muschelpopulation verdanken, zählen unter anderem Seesterne, Robben, Schildkröten, tausende Fischarten und der -mit unserem heimischen Fischotter verwandte- Seeotter. Sieht man also einmal von der niedrigen Stufe in der Nahrungskette ab, die Muscheln einnehmen, so könnte man sagen, dass sie in ihrer Umwelt im Mittelpunkt stünden.

Darüber hinaus ist ein weiterer „Fressfeind“ der Muschel, um die Nahrungskette weiter hinaufzuklettern, der uneingeschränkte König der Kette selbst – der Mensch. Obgleich der Muschelfang in der globalen Fischereiindustrie eher eine Randposition einnimmt, ist er stark ortsabhängig. Mancherorts hat es das Fischen nach den Schalenträgern sogar geschafft, zu einem eigenen Industriezweig heranzureifen. Bestes Beispiel hierfür ist die Chesapeake Bay im Osten der USA – zumindest jene Chesapeake Bay der vergangenen Zeit. Umspült wird die Bucht zwischen den US-Bundesstaaten Maryland und Virginia von zehn verschiedenen Flüssen, darunter solche Größen wie der York River. Durch ihren unglaublich vielfältigen Muschelreichtum wurde die Bucht weltbekannt, allem voran durch die wohlschmeckenden Austern und Venusmuscheln. Die berühmten Chesapeake Bay-Muscheln wurden in die ganze Welt verschickt und die Städte rund um die Bucht erlebten einen Wirtschaftboom, wie er in der Geschichte von Fischerorten nur selten zuvor vorgekommen war. Der Reichtum an Muschelpopulationen ging kurzzeitig gar soweit, dass die einzelnen Ansammlungen der Weichtiere drohten, den Schifffahrtsverkehr in der Bucht lahmzulegen. Die Schalen der Tiere waren scharfkantig und die Bucht bloß sechs Meter, stellenweise sogar nur zwei Meter tief. Wenngleich die Muscheln zu einer Gefahr zu werden drohten, bescherten sie den Fischern der Chesapeake Bay ein Leben in Wohlstand. Eine Fischereilizenz für die Bucht zu besitzen, kam, vom finanziellen Aspekt her, einer Anstellung als Manager gleich. Somit bewiesen die Schalenträger, dass sie auch in puncto Wirtschaft in der Lage sind, ganz groß mitzumischen.

Ein weiterer Punkt für die tragende Rolle einer gesunden Muschelpopulation im Meer ist die Aufgabe der kleinen Tierchen als Filtrierer. Denn sobald eine Muschel beginnt, Wasser in ihren Schlund fließen zu lassen, gelangen nicht nur Sauerstoff und Nahrungspartikel an ihre Kiemen, sondern auch alle gelösten und festen Schadstoffe. Mit dieser Reinigungswirkung kommt die Funktion von Muscheln im Wasser etwa der Funktion von Pflanzen am Land gleich. Muschelbänke die Regenwälder der Meere? Man könnte zu diesem Schluss kommen, denn bei der Säuberung der Meere sind sie nicht weniger effektiv wie Wälder bei der Reinigung der Luft. Eine einzige kleine Muschel schafft es, pro Tag unglaubliche 200 Liter Wasser durch ihren Körper fließen zu lassen und es von Schadstoffen zu befreien.

Vom Umweltschutzgedanken her eine grandiose Einrichtung der Natur. Die Menschheit pumpt ihre Abwässer in die Meere und muss bloß darauf achten, ausreichend Muschelbänke zu erhalten, die für sie die Reinigung übernehmen. Tatsächlich käme dieses Prinzip aber einer Wunschvorstellung gleich. Denn die Muschel-Filtration findet nicht etwa in einem langen Strang statt, wie eben beschrieben, sondern in einem einzig großen Rad, gleichsam einem Kreislauf. Alles Handeln der Menschheit kommt früher oder später auf sie zurück und exakt so verhält es sich auch mit dem Muschelprinzip.

Der Kreislauf und der Einfluss

Die Abwässer von Privathaushalten und Fabriken werden in die Weltmeere entlassen. Muscheln filtrieren sie und speichern sie in ihrem Körper, dessen Fleisch vom Menschen verzehrt wird und die Giftstoffe auf diese Weise wiederum in seinen Körper gelangen. Aus diesem Grund keine Muscheln zu essen, käme einer Selbstlüge gleich, denn wenn eine Muschel nicht vom Menschen verzehrt wird, fällt sie einem der zahllosen Raubfische zu Opfer, der, wenn er nicht vom Menschen gegessen wird, wiederum von einem noch größeren Fisch verzehrt wird. Auf diese Weise reichern sich die Giftstoffe sogar noch an und landen irgendwann unweigerlich in Form eines Schwertfischfilets oder eines Fischstäbchens beim Menschen. Aber auch Fischverächter und Vegetarier kommen nicht um den Genuss der Toxine herum. Denn noch immer wird weltweit so manche Muschelart, allem voran die Miesmuschel, als Dünger verwendet. Ernährungsguru Taras Grescoe zieht in seinem Buch Der letzte Fisch im Netz einen treffenden Vergleich. Er schreibt, Meerestiere als Dünger für andere Lebensmittel zu verwenden, käme einem Steak gleich, das auf einem Grill mit Briketts aus Rindfleisch zubereitet worden wäre.

Ein trauriges Beispiel für die Bedrohung der Muschelbänke findet außerdem unmittelbar vor der Haustür Europas statt: Im Mittelmeer. Trotz seiner Nährstoffarmut ist es das zu Hause zahlreicher Muschelarten, von denen manche exquisite Speisemuscheln abgeben. Gleichzeitig werden jedoch de facto pro Jahr nicht weniger als 600.000 Liter Öl in ebenjenes Meer vergossen. Sei es durch Schiffunglücke, Fabriken am Meer und an einem seiner Zuflüsse, oder auch durch das Ballastwasser der Schiffe. Muscheln filtrieren die im Öl enthaltenen Giftstoffe und reichern sie in ihrem kleinen Körper an. Früher oder später gelangt schließlich auch der Mensch im Ablauf der Nahrungskette an diese Schwermetalle und anderen Toxine.

Das Ballastwasser von Schiffen stellt darüber hinaus wiederum selbst eine Bedrohung für Muscheln und andere Arten dar. Legt ein Schiff beispielsweise im Hafen von Sydney ab, so nimmt es von hier Wasser auf, um genügend Masse zu haben. In seinem Zielhafen angelangt, entlässt es dieses Wasser wieder in die Natur. Neben dem beschriebenen Ölausfluss kommt an dieser Stelle obendrein die Bedrohung durch eingeschleppte Arten hinzu, die in den Tanks der Schiffe mitreisen. Ein besonders böswilliger Eindringling -und ein Musterbeispiel für einen eroberungswütigen Neozoon- ist die Alge Caulerpa taxifolia. Ursprünglich in den Gewässern rund um Australien beheimatet, treibt sie nun ihr Unwesen im Mittelmeer. Sie verdrängt zunehmend die artenreichen Seegraswiesen und besiedelt auch andere Lebensräume. Muscheln und andere Meerestiere werden aus ihrem Biotop verdrängt, ehe sie von Region zu Region aussterben.

Die Chesapeake Bay

Doch tatsächlich verblasst all das, in Anbetracht dessen, was die Menschheit der Chesapeake Bay, im Osten der USA angetan hat. Denn nicht umsonst war bisher in der Vergangenheit von der Chesapeake Bay als „Fisherman’s Paradise“ die Rede. Aber noch einmal zurück: Die Chesapeake Bay war ein Paradies für Fischer jeglicher Art. Die Gründe der sechs Meter tiefen Bucht waren übervoll von Austern, Venusmuscheln, Krabben, Krebsen, und Unmengen von anderen Meeresfrüchten und Fischen. Buchautor und Journalist H. L. Mencken bezeichnete sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in Anspielung auf den Nährstoffgehalt der Tiere, treffend als natürliche Proteinfabrik. Der Boom von Muschel, Krabbe und Co. ging sogar so weit, dass in der Blüte der Bucht bis zu 7.000 Fischer ihre Netze darin auswarfen.

Heute ist es nur noch ein Bruchteil von dieser Zahl. Heute herrscht eine ganz andere Form der Blüte vor: Die Algenblüte. Der grüne Teppich der Zerstörung breitet sich unweigerlich aus, überzieht alles mit einem grünen Schleier und homogenisiert mit der Zeit all den Reichtum, welcher der Bucht zu ihrem Ansehen verholfen hat. Und gleich, um welchen Faktor es sich handelt, in der Chesapeake Bay finden Algen alles, was sie für ein reichhaltiges Wachstum benötigen. Die Erwärmung des Klimas und der Meere machen die Bucht zu einer Art dahinsiedenden Suppe. Während sie vor etlichen Jahren noch im Winter zufror und so die Chance hatte, Bakterien und Algen abzutöten, ist das Wasser darin heute so warm, dass es das Wachstum und die Ausbreitung der Algen nur noch beschleunigt. Die zunehmende Urbanisierung lies ebenfalls die Landwirtschaft rund um die Bucht und vor allem rund um die Flüsse aufleben. Düngermittel werden tagtäglich von den Feldern in die Bucht gespült und treiben hier das Algenwachstum voran. Die Fabriken rund um die Bucht nahmen von Jahr zu Jahr zu und mit ihnen auch die Giftstoffe, welche tagtäglich in die Bucht entlassen werden.

So verwandelt sich die Chesapeake Bay allmählich in einen vor sich hin gärenden Sud, versetzt mit Giftstoffen und Algen. Dass Muscheln hier mit ihrer Filtration nicht lange mithalten können, ist einleuchtend. Taras Grescoe schrieb weiter in seinem Buch, die Muscheln filtrierten sich in der Chesapeake Bay ihre kleinen Seelen aus dem Leib.

Mit der Zeit gingen die Bestände an Muscheln, Fisch und anderen Tieren stark zurück, nicht zuletzt auch durch die jahrelange Überfischung. Zwar sind die weltweiten Hauptexporteure von Krabben heute immer noch jene Unternehmen an der Chesapeake Bay, doch an Muscheln und anderen Meeresfrüchten wird es nachweislich knapp. Und ganz ehrlich: Wer will schon Muscheln, die sich die Seele aus dem Leib filtrieren, und Krabben, die mit Neurotoxinen und sonstigen krebserregenden Giftstoffen gespickt sind, zu sich nehmen?

Die oftmals finanziell teurere, aber gesundheitstechnisch vielfach günstigere Variante, bleiben bis in ferne Zukunft wohl die nachhaltigen Muschelzuchten, die gewissermaßen zu ihrer Gründung gezwungen werden.

Im Theater des Lebens, in dem eine der Bühnen die Weltmeere sind, gibt es mehrere Hauptrollen zu besetzen. Die Rolle der Muscheln mag angesichts von 30 Meter langen Walen, scharfzahnigen Haien und schillernden Riesenschildkröten nicht unbedingt eine von ihnen sein. Doch gibt es für eine solch wichtige Aufgabe, wie sie Muscheln in den Weltmeeren übernehmen, überhaupt eine angemessene Nebenrolle zu vergeben? Wahrscheinlich nicht. Schließlich haben sich die Tiere, die sich im Hintergrund halten, dafür aber das ganze Meer am laufen halten, es von Schadstoffen befreien und anderen Arten erst das Dasein ermöglichen, doch mehr verdient. Vielleicht aber findet sich die Rolle der Muschel somit gar nicht auf der Bühne wieder. Möglicherweise ist es ja sie, die sich hinter dem Vorhang verdeckt hält und von dort alle Stricke zieht. Auf sie zu verzichten, ist jedenfalls keine Lösung.


Foto 1: Jakobsmuschel, © Andreas Tille unter der GNU-Lizenz
Foto 2: Der Schlund einer Muschel (mit sichtbaren Augen), ©

Foto 3: Große Riesenmuschel, ©

Foto 4: Ochsenherz, © Andreas Hoffmann

Foto 5: Die Chesapeake Bay, © Benjamin Graves unter der Creative Commons Lizenz