24 Mai 2010

Schöne Seltenheit: Jaguar

Geschichtsträchtig, allerseits respektieret und von hoheitlicher Anmut. Der Jaguar ist der unumstrittene König des Dschungels, sein Reich umfasst weite Teile Südamerikas. Doch über sein tropisches Königreich zieht ein dunkler Schatten herein, ein Schatten der Zerstörung und der Vernichtung. Allein in den letzten Jahrzehnten schrumpfte sein Herrschaftsgebiet um die Hälfte und der Jaguar selbst muss sich auch immer häufiger böswilligen Verfolgern gegenübersehen. Er mag zwar der König des Dschungels sein, doch diese Ehre trägt auch einen hohen Preis mit sich, denn der Jaguar erlebt es hautnah mit, was es heißt, ein Monarch im 21. Jahrhundert zu sein.

Der Jaguar ist der König des Dschungels. Von Mexiko im Norden bis hin nach Argentinien im Süden erstreckt sich sein Reich. In diesem Gebiet ist er der uneingeschränkte Herrscher, Herr der Nahrungskette und Richter über Leben und Tod. Die restliche Tierwelt verneigt sich vor seinem Antlitz. Hoheitlich trägt er sein schwarz getupftes Herrscherkleid und zweifelt jemand an seiner Stellung, zögert er nicht, seine fingerlangen Eckzähne als Machtbeweis zu zeigen. Und auch die Verwandtschaft mit Löwe, Tiger und Co. –ihrerseits selbst Könige ihres Lebensraumes– beweist: der Jaguar stammt aus wahrlich königlichem Haus.

Und dennoch hat er bei genauerem Hinsehen etwas ganz und gar Unkönigliches an sich; eine Eigenschaft, die jeder König aus seinem Repertoire streichen sollte. Denn der König des Dschungels hat Lampenfieber vor großen Auftritten. Mit seinen sporadischen Kurzauftritten hat er gar etwas von einem Waldgeist an sich. Kaum hat man ihn gesehen, ist er auch schon wieder verschwunden. Tatsächlich ist der Jaguar eine der scheusten Großkatzen. Es scheuen nicht nur andere Tiere seinen Kontakt, auch er geht anderen Tieren und Menschen lieber aus dem Weg. Die meiste Zeit des Tages (laut Untersuchungen 40 bis 50 Prozent) verbringt er sogar schlafend im Unterholz. Während man früher aus genau diesem Grund annahm, der Jaguar sei ausschließlich nachtaktiv, weiß man es heute besser. Während er die Haupttageszeit in einem versteckten Winkel vor sich hin döst, wird er bereits in den Nachmittagsstunden aktiv. Zu dieser Tageszeit demonstriert er dann wieder, dass er sich seine hohe Stellung redlich verdient hat. Denn einem König angemessen, geht er nun auf die Jagd. So gesehen, hat er allerdings auch etwas von einem Guerilla-Krieger, der sich den ganzen Tag versteckt, plötzlich zuschlägt und so schnell er da war, auch schon wieder verschwunden ist.

Das Beutespektrum des Jaguars ist äußerst breit, was er in erster Linie seinen beiden Jagdmethoden verdankt. Während die meisten Räuber bloß auf eine Art an ihre Beute herankommen, ist der König des Dschungels sowohl als Anpirschjäger im Unterholz, aber auch als Ansitzjäger auf den dicken Ästen von Bäumen aktiv. In beiden Fällen tötet er seine Beute –von Gürteltieren über Hirsche bis hin zu Affen– mit einem gekonnten Biss in den Schädel – eine Einzigartigkeit, wie sie unter Katzen eigentlich nur beim Jaguar vorkommt. Aber auch sonst zeigt sich schnell, sobald es ums Jagen geht, dass der Jaguar eine untypische Katze ist. Während sich andere Vertreter seiner Familie eher an ein untergehendes Schiff krallen würden, bevor sie zwei Schritte im Wasser auf das rettende Land machen, ist der Jaguar dem Wasser in keinster Weise abgeneigt. Bietet sich die Gelegenheit, geht er sogar in diesem Element auf die Jagd, um einen Fisch, hin und wieder gar einen Kaiman, oder auch eine Schildkröte zu erbeuten. Das Knacken ihres Panzers ist für ihn die leichteste Übung, nicht nur wegen seiner spitzen Zähne, sondern auch dank seines enormen Schädels, mit dem er einen ebenso enormen Druck aufbauen kann. Bleibt von der kostbaren Mahlzeit nach dem Fressen noch etwas übrig, vergräbt der Jaguar die Reste für knappere Zeiten unter der Erde.

Dieses Fressverhalten des Jaguars, wie es auf diese Weise in allen Lexika und Tierenzyklopädien zu lesen ist, beschreibt allerdings leider nur die halbe Wahrheit. Denn das Beutespektrum des felltragenden Königs reicht darüber hinaus und beinhaltet so gut wie alles, was viel Fleisch verspricht und erlegt werden kann – Eine Eigenschaft, die ihn nur allzu oft in ein schlechtes Licht rücken lässt und ihn immer wieder zum Verhängnis wird.

Denn ein Wildtier, das an einer bereits vorbereiteten Mahlzeit vorüberkommt, wird diese wohl kaum verschmähen und auf eine Gelegenheit warten, die seinen Jagdinstinkt mehr fordert. Doch nicht selten besitzt eine solche vorbereitete Mahlzeit die Form eines festgebundenen Schweins, oder die eines Gatters voller Rinder. Das rasante Bevölkerungswachstum Südamerikas und die damit verbundene Ausweitung der Landwirtschaft und die Zunahme der Viehzuchtbetriebe tragen auch nicht gerade dazu bei, die Versuchung zu schmälern.

Sobald ein Jaguar bis zu einer Farm vordringt und Vieh reißt, entsteht unweigerlich eine Konfliktsituation; ein Kampf zwischen Mensch und Tier. Und tatsächlich haben beide Gegner gute Argumente, warum sie diesen Kampf austragen. Der Mensch hat das Vieh domestiziert, kümmert sich darum und bewirtschaftet es ähnlich einem Acker. Da ist es doch sein gutes Recht, es auch gegen Angreifer zu verteidigen. Der Jaguar könnte hingegen den Standpunkt vertreten, dass er sich nur nimmt, was ihm zusteht. Denn schließlich ist es sein Gebiet, er ist der König. Und tatsächlich ist es nicht er, der auf die Farmen der Menschen vordringt, sondern die Menschen, die zunehmend in sein Königreich vordringen. Möglicherweise ist dieser Konflikt aber auch nichts anderes, als die Evolution in einer ihrer vielen Gestalten.

Was ist Evolution? Grob gesagt, das Überleben des Stärkeren, nachdem der Kampf um Nahrung und allem voran um Lebensraum ausgetragen wurde. Und genau diese Beschreibung trifft auf den Konflikt zwischen Mensch und Jaguar zu, bloß, dass der Kampf zu dieser Stunde am Laufen ist. Der Ausgang ist ungewiss, doch wenn Mensch und Tier im 21. Jahrhundert miteinander kämpfen, ist er zumindest absehbar.

Es mag unnatürlich klingen, aber dennoch ist fraglich, ob die Evolution, ein Prozess, der so alt ist, wie das Leben selbst, in der Form, wie sie hier stattfindet, in Zeiten wie diesen ethisch noch überhaupt vertretbar ist.

Vielleicht sollte man sich das Problem dabei einfach mal näher ansehen. Der Jaguar ist, wie oben beschrieben, ein Viehräuber. Der Kampf um die Nahrung ist also de facto gegeben. Die zweite Komponente der Evolution, der Kampf um Lebensraum, ist ebenso existent. Denn obwohl der Jaguar der unumstrittene König des Dschungels ist, steht eins ganz gewiss fest: Sein Königreich schwindet.

Das heutige Verbreitungsgebiet des Jaguars reicht vom westlichen Mexiko über ganz Zentralamerika und Amazonien, bis hin nach Argentinien. Noch bis vor fünfzig Jahren erstreckte sich dieses Gebiet sogar noch bis in den Südwesten der USA. Erst im Jahr 1963 wurde der offiziell letzte Jaguar auf US-amerikanischen Boden erschossen. Scheinbar aber konnten sich ein paar einzelne der Tiere im Hinterland halten, sodass die Sichtungen von Jaguaren noch in etwa auf die Jahrtausendwende zurückgehen. Möglicherweise waren diese wenigen Einzelgänger aber auch aus Mexiko die Landkarte hinaufgezogen. Sicher ist allerdings, dass sie keinen Einfluss mehr auf die Gesamtpopulation des Jaguars haben und mit dem Abschuss im Jahr 1963 ein historischer Meilenstein in der Ausrottung des Jaguars gelegt wurde.

Allein in den letzten Jahrzehnten schrumpfte das Verbreitungsgebiet –die USA bereits außer Acht gelassen– um rund die Hälfte. Die Ursache ist, wenn man so will, eine alte Bekannte: Die Regenwaldzerstörung. Abholzung, Nutzbarmachung für die Landwirtschaft und galoppierende Urbanisierung im Namen des Fortschritts – aber auf Kosten eines einzigartigen Ökosystems und dessen Bewohner.

Wirft sich wieder einmal die Frage auf, ob der Fortschritt des Menschen zugunsten der Tiere aufgehalten werden darf, denn im Gunde holt Südamerika doch jetzt nach, was Europa oder die USA bereits in den letzen hundert Jahren vollbracht haben. Fakt ist, man kann den Fortschritt nicht aufhalten, Fakt ist aber auch, dass der Lebensraum, in dem wir leben dabei nicht zu kurz kommen darf. Ein Kompromiss muss gefunden werden.

Ein erster Versuch, den Jaguar vor der hungrigen Mühle des Fortschrittes zu schützen, ist seine Aufnahme in das Washingtoner Artenschutzabkommen im Jahr 1973. Darin wird festgehalten, dass der Handel mit Fellen und Körperteilen von Jaguaren verboten ist und denjenigen, der sich über dieses Verbot hinwegsetzt, hohe Strafen erwarten. Das war insofern wichtig, als in den 1960er Jahren laut Schätzungen jährlich 15.000 Jaguare erlegt und –zu jener Zeit legal– auf den Markt gebracht wurden – Und diese Zahl stammt allein aus dem brasilianischen Gebiet Amazoniens. So gesehen war das Washingtoner Artenschutzabkommen vor rund vierzig Jahren ein voller Erfolg.

Doch nach heutigen Maßstäben betrachtet, handelt es sich bestenfalls um einen Teilerfolg, einen kleinen Schritt auf dem langen Weg zum Schutz des Jaguars. Denn auch wenn der Weg zum Schutz des Jaguars mit den Schuhen des Gesetzes begangen werden muss, schlägt er dennoch eine andere Richtung ein. Denn die einzige Möglichkeit, einen nachhaltigen Schutz für diese Tierart zu gewährleisten, ist, ihren gesamten Lebensraum zu schützen – und das im Einklang mit dem Fortschritt.

Und hat man diesen Weg erst als den wahren anerkannt, werden einem erst die tausende von Problemstellungen bewusst. Aber: Es werden einem auch die Augen für die ersten Erfolge geöffnet. Im Jahr 2008 beispielsweise wies die Regierung Brasiliens Schutzgebiete aus, die mit einer Gesamtfläche von 4,6 Millionen Hektaren in etwa der Fläche des deutschen Bundeslandes Niedersachsen entspricht. Außerdem setzen Naturschutzorganisationen auf die Aufklärung der Bevölkerung der betroffenen Gebiete und eine nachhaltigere Waldbewirtschaftung. Der WWF geht sogar noch einen Schritt weiter und hat sich zum Ziel gesetzt, die Entwaldung brasilianischer Regenwälder bis zum Jahr 2020 gänzlich zu stoppen.
Das mag angesichts des gnadenlosen Fortschrittes der Urbanisierung sehr hoch gesteckt klingen. Zumal man in Wörterbüchern zum Fortschritt das Synonym Intensivierung findet. Noch ist der Jaguar nicht vom Aussterben bedroht, doch die tagtäglich schwindende Fläche seines Verbreitungsgebietes sollte Anlass zu einer schnellen Lösungsfindung geben – wie auch immer diese aussehen mag.

Umweltschutz im 21. Jahrhundert ist, wie man sieht, eine komplizierte Angelegenheit. Die größte Gefahr für eine Tierart ist aber immer noch die Verfremdung der Menschen gegenüber der Natur. Denn ist sie in Gedanken bereits abgeschrieben, fehlt nicht mehr viel und das Konzept ist auch in der Realität umgesetzt. So gesehen, ist der beste Schutz des Jaguars auch der gleichzeitig einfachste: Die Bewusstseinserweckung unter der Bevölkerung; als selten zuvor gesehenes Tierschutzprojekt vielleicht auch die Einbindung des Jaguarbildes in die Gesellschaft.

Ob das in Zeiten von iPod, McDonalds und Co. überhaupt noch möglich ist, ist fraglich. Dass es überhaupt möglich ist, beweisen aber die frühen Hochkulturen. Beispielsweise die der Maya, die einen Gott in Jaguargestalt anbeteten. Trotz Gott der Unterwelt, schmückten sich Herrscher und Adelige nicht nur mit seinen Fellen und seinen Körperteilen, sondern nahmen seinen Namen sogar in ihren Familiennamen auf. Die Tiere selbst stellten mit ihrem anmutigen Auftreten und ihren tiefgründigen Augen das Tor zur spirituellen Welt dar.

Die Azteken führten zu ihrer Blütezeit zwei verschiedene Eliteeinheiten ihres Heeres: Die Adlerkrieger und die Ocēlōtl genannten Jaguarkrieger. Sie trugen meist aufwendigen Schmuck, waren mit Jaguarfellen bekleidet und zeichneten sich durch besondere kämpferische Leistungen aus.

Noch intensiver lebten die Mayoruna, ebenfalls ein Indianervolk, den Kult um den Jaguar aus. Nicht nur, dass ihre Waffen mit Jaguarzähnen bestückt waren, auch sie selbst wollten so eng wie möglich mit dem Tier verbunden sein. Sie bemalten nicht nur ihre Gesichter wie einen Jaguarkopf, sondern steckten sich sogar Stacheln durch die Lippen, welche die Schnurhaare der Katze symbolisieren sollten.

Und siehe da: Je intensiver dieser Kult ausgelebt wurde, desto größer war die Hemmung davor, einem Jaguar Leid zuzufügen.

Das heißt nicht, dass nicht vereinzelt Jaguare für ihre Felle und ihre Körperteile bejagt wurden. Doch im Gegensatz zur heutigen Kultur, lebten die indigenen Völker auch noch im Einklang mit der Umwelt. Während zur Zeit der Azteken und der Maya ein ständiges Nehmen, aber ebenso ein Geben stattfand, ist diese Mensch-Natur-Beziehung heute relativ einseitig. Und wenn zwei oder mehrere Parteien in der Natur Aussicht auf Beständigkeit haben wollen, dann bedarf es einer ganz speziellen Zutat: Ausgeglichenheit.


Foto 1: Jaguar, © Lea Maimone unter der Creative Commons Lizenz
Foto 2: Jaguar mit ausgeprägtem Melanismus > Panther, ©
Foto 3: Verbreitung des Jaguars einst (rot) und heute (grün), ©
Foto 4: Darstellung eines Jaguarkriegers (Azteken), ©

Keine Kommentare: