06 August 2010

Bartgeiers Knochenschmiede

Eisenoxid, der Bart und sichtbare Erregung

Der Bartgeier ist ein Vogel der Extreme. Ganz gleich, ob man auf seine Statur oder seine Fortpflanzung achtet, sein Verhalten, oder seine Verbreitung. Er ist einer der größten Vögel weltweit und gleichzeitig einer der seltensten. Allein seine Flügelspannweite beträgt 2,9 Meter und ist damit eineinhalb Mal so groß wie ein ausgewachsener Mensch; sein Gewicht - das 318fache eines Rotkehlchens und seine Körperlänge weit über einen Meter.

Andere Körpermerkmale lassen sich nicht mit Zahlen belegen, der Extreme und dem Außergewöhnlichen jagen sie dennoch hinterher.

Der namensgebende Bart ist einzigartig unter Vögeln. Eigentlich aus dutzenden borstenartigen Federn, entspringt er der Region unterhalb der Augen und zieht sich weit über den Schnabel fort. Aber nicht nur der Bart ist außergewöhnlich, beim Bartgeier hat so gut wie jedes Körpermerkmal seine eigene Geschichte oder seinen Hintergrund - so auch die rostrote Farbe an Hals, Brust und Bauch des Geiers. Sie kommt von einem Bad in eisenoxidhaltiger Erde. Der wahre Grund dafür ist bis heute ungeklärt, Theorien gibt es viele. Eine davon sagt dem Wälzen im Rost denselben Zweck nach, weshalb sich Elefanten und Schweine im Schlamm suhlen: Sie sollen sich so vor lästigen Parasiten schützen. Das Eisenoxid sei bloß aus dem Grund gewählt, da schwere Schlammklumpen im Vogelgefieder denkbar ungünstig wären. Andere Theorien besagen, dass die Vögel auf diese Weise ihre Körpertemperatur regulieren, oder alte Federn abstoßen. Die gängigste Theorie ist laut Wissenschaftlern aber die, dass die rote Färbung eine Statusanzeige ist - eine Art sexuell-machtanzeigendes Stimmungsbarometer. Biologen konnten beobachten, dass das Rot der grundlegend dominanteren Weibchen intensiver war, als das ihrer männlichen Artgenossen. In der Paarungszeit hatte der Rotstich beider Geschlechter zugenommen.

Um darüber Gewissheit zu erlangen, werden einige weitere Jahre der Forschung vergehen. Sollte sich die Stimmungs-Theorie aber bewahrheiten, dann wäre das bereits der zweite Indikator für die Launen des Bartgeiers. Um die Augen besitzt der Vogel nämlich einen sogenannten Skleralring, der sich bei Aufregung (und je nach deren Intensität) von Rötlich, über Kirschrot bis hin zu Purpur verfärbt. Somit hätte der Bartgeier als erstes Tier den perfekten Mechanismus, seinen Status zu offenbaren, ohne Missverständnisse aufkommen zu lassen: Die Färbung für die aktuelle Lebenslage und Persönlichkeit (single, dominanter Charakter, paarungsbereit) und den Skleralring für die Stimmung (aggressiv, angriffsbereit, friedlich)

Bartgeiers Knochenschmiede

Einzigartig macht den Bartgeier neben seinem Körper auch seine Nahrung, oder allein schon die Technik, wie er an diese herankommt. Die meisten anderen Greifvögel haben ein breites Nahrungsspektrum, um ihre Chancen auf eine schnelle Mahlzeit zu vergrößern. Die einzige Nahrung, die der Bartgeier zu sich nimmt, ist im Gegensatz dazu, genauso einfallslos, wie nährstoffarm: Er frisst ausschließlich Knochen. Ein leichtes Unterfangen, sollte man glauben, denn es gilt: Wo (Wirbel)Tiere, da auch Knochen. In der Realität ist die Jäger-Beute-Beziehung aber um Einiges komplizierter. Denn der Bartgeier ernährt sich fast ausschließlich von dem Knochengerüst, nicht aber von dem Tier, dem es Gestalt verleiht. Ein erwachsener Vogel lebt zu achtzig Prozent und mehr von Knochen. Er ist daher auf das Zusammenleben mit Bär, Wolf und anderen Wildtieren angewiesen, die für ihn die Gebeine freilegen.

Die meiste Zeit des Tages kreisen Bartgeier in ihrem Revier und halten Ausschau nach einem frischen, vielleicht sogar noch warmen, Kadaver. Sobald sie sich überzeugt haben, dass sie allein mit dem toten Tier sind und die Knochen bereits offen liegen, setzen sie zum Landeanflug an. Ganz dem Prinzip eines Aasfressers, stürzen sie dabei nicht direkt auf ihre Beute zu, sondern legen die letzten Meter zu Fuß zurück.

Hat ein Bartgeier erst einmal einen Knochen aus dem Kadaver herausgerissen, wiegt er ab, ob er ihn im Ganzen hinunterschlingt, oder ihn zuvor zertrümmert. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass der Vogel mühelos Knochen von der Größe des menschlichen Schlüsselbeins schlucken kann. Sobald die Kalziumpakete aber größer sind, kommt die Knochenschmiede des Bartgeiers zum Einsatz. Dabei handelt es sich um nahezu waagrechte Felsplatten von etwa dreißig Quadratmetern Fläche. Der Vogel schnappt sich den Knochen, fliegt in einer Spirale bis zu achtzig Meter hoch und lässt ihn von dort aus auf seine Schmiede hinabfallen. Den Knochen zerspringen zu lassen, gelingt selten schon beim ersten Mal. In Feldstudien zählten Biologen die Versuche mit und staunten selbst: Der beobachtete Bartgeier hatte es zwar erst beim vierzigsten Anlauf geschafft, doch gleichzeitig auch bewiesen, wie viel Geduld er dabei aufbrachte.

Entführte Kinder und eine Schildkröte

Dieses Verhalten brachten dem Bartgeier neben dem Spanischen Namen Quebrantahuesos (Der die Knochen bricht) auch im Deutschen die Beinamen Knochenbrecher und Beinbrecher ein. Und führte zeitgleich zu einem Konflikt mit dem Menschen, was teils begründet ist, größtenteils aber dem Mitwirken von Aberglauben und Mythos bedurfte.

Im Mittelmeerraum, der seit Jahrhunderten ein Rückzugsgebiet für die Vögel darstellt, wird das Beutespektrum der Bartgeier durch Landschildkröten erweitert. Die Geier lassen sie dort, ähnlich ihren Knochen, auf einen Felsen hinabfallen, um sie zu knacken. Eine Legende besagt, dass ein Bartgeier einst über der italienischen Stadt Gela eine Schildkröte herabfielen ließ. Unglücklicherweise traf sie dabei den Kopf von niemand geringeren als dem griechischen Dichter Aischylos, der daraufhin zu Tode kam.

Im Alpenland nannte man den Bartgeier häufig Lämmergeier, da man beobachten haben wollte, wie der Raubvogel Lämmern und anderen Huftieren nachstellt. Sogar kleine Kinder soll der Geier entführt haben, wie der schweizer Schriftsteller Friedrich von Tschudi 1890 niederschrieb: „In Hundwyl trug ein solch verwegener Räuber ein Kind vor den Augen seiner Eltern und Nachbarn weg.“ Außerdem lebe seinen Schriften zufolge immer noch eine Frau im Urnerlande, die in ihrer Kindheit von einem Lämmergeier entführt worden sei und auf der Silberalp hätte er einen Hirten zerfleischt, „und stieß ihn, ehe die herbeieilenden Sennen ihn vertreiben konnten, in den Abgrund.“

Es dauerte nicht lange, da geschah mit dem Bartgeier, was allen Tieren einst widerfuhr, denen man unglaubliche Fähigkeiten zuschrieb, es aber so gut wie nie zu sehen bekam: Er wurde mystifiziert, die biologische Spezies bald schon zu einer sagenumwobenen, mystischen Gestalt. Doch anders als beispielsweise dem Jaguarkrieger oder dem Quetzalcoatl im Amazonasgebiet, war der Ruf des mystischen Lämmergeiers negativ behaftet. Er spielte in puncto Volksglaube bald schon in derselben Liga wie der Werwolf und man begann, ihn zu verfolgen.

Er muss weg

Der Hass der Menschen auf eine Bestie, die drohte, ihre Kinder zu entführen, war denkbar groß. Vor allem in den abgelegenen Gebieten des Alpenlandes war der Volksglaube in den vergangenen drei Jahrhunderten eine zweite Religion. Der Bartgeier kam darin einem Dämon gleich. Er wurde rücksichtslos bejagt. Jene Menschen, die nicht an den kinderraubenden Bartgeier glaubten, brachte der Glaube an etwas anderes dazu, den Raubvögeln nachzustellen: Das schnelle Geld. Denn im 19. Jahrhundert setzten Guteigentümer und Landesherren eine Prämie auf jeden erlegten Bartgeier aus.

Hinzu kam, dass zu der Zeit die Nutzbarmachung der Gebirgsregionen so schnell voranschritt, wie nie zuvor. Aus hohen Wiesen wurden Weiden, Wälder wurden zu brachen Flächen. Man entzog Rehen, Wildschweinen und Gämsen systematisch ihren Lebensraum und den Bartgeiern somit die Lebensgrundlage. Flächendeckend ist der Bartgeier heute aus der Alpenregion verschwunden. Die letzten Tiere wurden 1886 in der Schweiz, 1906 in Österreich und sieben Jahre später schließlich auch in Italien erlegt. Das heutige Vorkommen des Bartgeiers gleicht einem Fleckenteppich auf der Landkarte. Zu seinen letzten Rückzugesgebieten gehören Teile des Atlasgebirges, der Pyrenäen und des Kaukasus-Gebirges. In Afrika kommt der Bartgeier fleckenartig nur noch im äußersten Westen und im Streifen von Kenia bis nach Südafrika vor.

Schutzprojekt

Mehr als hundert Jahre nach dem Aussterben der Bartgeier in der Schweiz, hat ein Umdenken stattgefunden. Schon in den 1970er Jahren wurden neue Gesetze erlassen, welche die Wiederansiedlung des Bartgeiers unterstützen sollte. Im Innsbrucker Alpenzoo gelang ein langersehnter Zuchterfolg und es bildeten sich die ersten Gruppen, die sich dem Schutz des Bartgeiers verschrieben.
Heute, vierzig Jahre danach, ist ein Wiederansiedlungsprojekt im Gang, dessen erste Ergebnisse sich sehen lassen können. Rund hundert Bartgeier leben bereits wieder frei in den Alpen, allein die Hälfte davon in der Schweiz.

Möglich machte dies erst das Engagement von Regionalgruppen, die unter Landwirten und Jägern Aufklärungsarbeit leisteten. Zu der österreichischen Auswilderungsstation im Krumtal kamen bald schon eine in der Schweiz, zwei in Italien und drei in Frankreich hinzu. Der Schutz des Bartgeiers wurde auch im Standradprogramm zahlreicher Naturschutzorganisationen verankert und die Gesetze wurden ein weiteres Mal gestrafft, um den bestmöglichen Schutz zu gewährleisten.

Ein besonderes Beispiel für den regionalen Schutz bietet die griechische Insel Kreta. Hier wurde neben einem Erlebnispfad auch eine Beobachtungsstation errichtet, mit der eine optimale Aufklärung gesichert ist. Geschützt sind die Geier hier gleich durch zwei Faktoren: Einerseits durch das LIFE-Projekt der Europäischen Union und andererseits auch im Samaria-Nationalpark. Zusammen konnten die beiden Institutionen das Überleben von acht Brutpaaren sichern, was in unter Berücksichtigung der Fläche Kretas ein voller Erfolg ist.

Doch noch immer versuchen manche Menschen die Wiederansiedlung der Bartgeier zu verhindern und dabei scheinen ihnen alle Mittel recht zu sein. Häufig werden die Greifvögel Opfer eines Jägers, aber viel öfters noch verenden sie an den ausgelegten Giftködern. Die Gründe dafür heißen Unwissenheit und Ignoranz, das Motiv Eigen- oder Eigentumsschutz. Doch sind all das tatsächlich nur Begleiterscheinungen auf dem Weg zur Wiederansiedlung der Bartgeier oder ein Gegenstrom? Biologen, Umweltschützer und all jene Menschen, die sich in einem der vielen Projekte engagiert haben, hoffen auf den Fall einer Begleiterscheinung. Denn während sich Gegenströme meist weiterentwickeln, sind Begleiterscheinungen vergänglich.

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Foto 1: © Richard Bartz unter der Creative Commons-Lizenz

Foto 2: © J.M. Garg unter der GNU-Lizenz

Foto 3: © Richard Bartz unter der Creative Commons-Lizenz



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